Mein fremder Bruder
vervielfacht. Wer ist S. M. Haque , wollten sie wissen. Dr. Sattar erzählte Maya, die Medizinstudenten hätten schon Wetten abgeschlossen, welcher ihrer Profs sich dahinter versteckte. Er habe aber das Gefühl, er wisse, um wen es sich handeln könnte. Als sie ihre Mutter bei der letzten Nachuntersuchung hinausbegleitete (ich kann keinerlei Anzeichen der Krankheit mehr feststellen, meine Liebe. Ihr Bruder scheint dem K so viel Angst eingejagt zu haben, daß er sich aus dem Staub gemacht hat), hatte Dr. Sattar mit einem verschwörerischen Augenzwinkern zu ihr gesagt: Bitte seien Sie vorsichtig, ja? Und eine Stelle bot er ihr auch an, falls sie eine suche. Das wäre doch dumm, die schöne Ausbildung zu verschwenden.
Auch oben ging das Leben weiter wie zuvor. Maya nahm nicht mehr am Talim teil. Khadija rief nicht zu ihr herunter, und sie ging nicht hinauf. Sie dachte an ihre häufigen Besuche oben, an Khadijas warmen Schoß, den einlullenden Klang der Rezitation. Sie wußte, daß sie verführt worden war, wußte, daß sie etwas in sich verraten hatte, als sie den Trost, den diese Gemeinschaft ihrgeboten hatte, angenommen hatte. Sie schleppte Schuldgefühle für ihre Falschheit, ihre Heuchelei mit sich herum. Und das, was Sohail getan hatte – die in Ammus Ohr geflüsterten Worte, das Zamzam, das er ihr eingeflößt hatte: Sie hatte keinen Namen dafür, wußte nicht, wie sie es einordnen sollte. An das einzige, was ihr dazu einfiel – ein Wunder –, wollte sie nicht glauben.
Joy überredete Maya, noch einmal mit zu einer Zusammenkunft zu kommen. Jahanara Imam würde etwas sehr Wichtiges bekanntgeben, und Maya würde es bereuen, wenn sie nicht dabeigewesen wäre. Ali Rahman, der Schauspieler, der bei allen Aufführungen in der Bailey Road Hamlet gespielt hatte, eröffnete die Zusammenkunft mit einer Lesung aus dem Gitanjali von Rabindranath Tagore. Joy neben Maya war eine solide Erscheinung, seine Hände ruhten entspannt auf den Oberschenkeln. Sie bemerkte, wie groß er war, seine kräftigen Finger, die buschigen Augenbrauen. Alles an diesem Mann war lebendig und üppig. Maya spürte plötzlich das Bedürfnis, sich die Reden untergehakt an seinem Arm anzuhören.
Nach der Dichtung wurde gesungen. »Amar Sonar Bangla.« Jahanara Imam kam schwerfällig auf die Bühne, und alle standen auf und jubelten ihr zu. Wieder sprach sie über die Kriegsverbrecher. Diesmal hörte Maya richtig hin. Mujib und Zia hatten die Mörder nicht vor Gericht gebracht, und der Diktator würde eine Verurteilung nie und nimmer vorantreiben. Die Kollaborateure werden weiter unter uns leben, sagte sie, wenn wir nichts unternehmen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
Wenn der Staat ihnen keine Gerechtigkeit geben wollte, würden sie selbst dafür sorgen. Sie würden ein Volkstribunal abhalten, mit dem die Mörder und Kollaborateure gerichtet und verurteilt würden. Es dauerte einen Augenblick, bis den Leuten klar wurde, was sie damit meinte. Ein Jubelschrei ging durch den Raum, Klatschen. Das Volk wird das Urteil über Ghulam Azam sprechen und über Nizami und über die Razakars, die unser Land 1971 vergewaltigt haben. Die Mörder würden vor ein Gericht gestellt werden – ein Volksgericht. Gerechtigkeit, nicht nur für die Männer, die auf dem Schlachtfeld gefallen waren, sondern auch für die vergewaltigten Frauen.
»In diesem Augenblick gibt es im ganzen Land Tausende von Frauen, die mit der Erinnerung an ihre Schande leben müssen. Die Männer, die sie geschändet haben, laufen frei in den Dörfern herum. Niemand erinnert sie an die Sünden, die sie begangen haben. Das Gericht ist für diese Frauen. Ihretwillen muß Recht gesprochen werden. Wenn sie vor den Gerichtshöfen dieser Nation nicht Zeugnis ablegen dürfen, werden wir sie anhören. Wir werden ihnen Gerechtigkeit verschaffen. Das ist unsere Pflicht, unsere heiligste Pflicht als Bürger und als Überlebende.«
Maya hatte nur einen Gedanken.
Piya.
Jahanara Imam beendete ihre Rede. Eine Diskussion um die Details entwickelte sich. Wer sollte angeklagt werden? Was würden die Zeuginnen aussagen? Würden echte Opfer auftreten, echte Zeugenaussagen gemacht werden? Wie sollten sie die Frauen davon überzeugen, sich offen zu erkennen zu geben?
Maya dachte daran, was Piya über die Gewalttaten gesagt hatte, die an ihr verübt worden waren. Ich habe etwas getan. Etwas, das ich bereue. Etwas sehr Schlimmes. Das ich getan habe. Wie hatte sie zulassen können, daß Piya es so
Weitere Kostenlose Bücher