Mein fremder Bruder
Natürlich hätte es ein Tribunal geben müssen, das will ich ja gar nicht bestreiten, aber jetzt ist es zu spät, meine Liebe. Viel zu spät.«
»Es ist nie zu spät, um Gerechtigkeit zu verlangen!«
»Es ist 1985! Kapieren Sie das denn nicht? Wir haben größere Probleme, der Diktator wird keine freien Wahlen zulassen, und als allererstes müssen wir ihn loswerden. Dann können wir uns mit anderen Sachen beschäftigen. Aber das Land muß sich vorwärts bewegen, nicht rückwärts.«
Maya merkte, daß sie mit ihm zu handeln versuchte. »Nur was ganz Kleines auf Seite drei«, sagte sie, aber er war schon wieder völlig vertieft und hämmerte auf die Tasten ein. Sie fragte sich, ob sie vielleicht besser warten sollte, bis er mit dem Artikel fertig war, aber sie war wütend – er hatte ihr das Gefühl vermittelt, altmodisch zu sein, jemand, der immer noch seine Kriegswunden leckte. Sie sammelte ihre Sachen zusammen und ging in Richtung Tür, wo sie fast mit Aditi zusammenstieß, die einen rosa-blauen Karton mit Konfekt von Alauddin in der Handhielt. Ihre Wangen waren vom Triumph gerötet. »Es gibt was zu feiern!« sagte sie und klappte die Schachtel auf, damit Maya das Kalo-Jaam, Chom-Chom und ein einziges, extragroßes Laddu darin sehen konnte. »Sie wollen doch nicht etwa gerade gehen? Ich kann das doch nicht alles allein essen. Sie werden’s mir nicht glauben: Ich habe den Drucker um den Finger gewickelt, und er druckt uns 800 Stück für den Preis von 500!«
Shafaat hackte immer noch auf der Schreibmaschine herum. »Kommen Sie mit, Maya«, sagte Aditi. »Die verspeisen wir zwei. Ich mach uns einen Tee.«
Maya arrangierte die süßen Köstlichkeiten auf dem Tisch neben der Linotype-Setzmaschine. Sie mochte den Geruch und die trockene Wärme, die von der Maschine ausgingen.
»Ist das nicht aufregend?« sagte Aditi begeistert. Der Versuch, dem Drucker ein Sonderangebot aus dem Kreuz zu leiern, mußte ihr viel Spaß gemacht haben. Der Anblick einer Frau in Hosen mit auf dem Hinterkopf streng wie ein Reißverschluß geflochtenen Haaren hatte ihn wahrscheinlich aus der Fassung gebracht. »Was für eine Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?« fragte Aditi und biß in das Laddu. »Shafaat? Was hat er angestellt? Mußten Sie Tee für ihn kochen?«
Maya nickte.
»Der Mann ist unmöglich.«
»Ich will etwas über die Razakars schreiben, Sie wissen schon, daß sie verurteilt werden müssen.«
»Wirklich?« Ein Stückchen Laddu klebte Aditi am Mund.
»Shafaat ist dagegen.«
»Ach, Sie wissen doch, wie er ist, kann über seine zwei Finger nicht hinausblicken.« Und sie ahmte ihn nach und hackte mit den Zeigefingern in die Luft.
»Aber es sollte ihm wichtig sein. Die Menschen haben nicht vergessen.«
»Natürlich haben sie nicht vergessen. All die Menschen, die Angehörige verloren haben.«
»Und die Frauen.«
»Auch die Frauen.«
»Die vergewaltigten Frauen.«
»Sie meinen die Birangonas?«
»Genau, die Birangonas. Aber sie Heldinnen zu nennen übertüncht doch nur das, was wirklich mit ihnen passiert ist. Sie sind nicht mit Gebrüll aufs Schlachtfeld gezogen, sie wollten sich keine Medaillen verdienen. Sie waren nur der zivile Begleitschaden, die Kriegstrophäen. Ihr Leid darf nicht vergessen werden.«
»Aber wenn sie doch selbst wollen, daß es vergessen wird?«
In ihren Jahren im Exil hatte Maya viele vergewaltigte Frauen kennengelernt. Manche wollten Abtreibungen, oder sie wollten von ihr wissen, ob sie es irgendwie aus ihnen herauswaschen könne. Nicht eine davon wollte, daß irgend jemand etwas davon erfuhr. Nicht eine wollte Anzeige bei der Polizei erstatten oder ihrem Mann oder Vater davon erzählen. Vielleicht war es falsch, daß Maya sie dazu bringen wollte, darüber zu sprechen. Aber Piya ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Piya, wie sie auf der Veranda hockte und die Worte unbedingt herauswollten. Sohail und sie hatten sich an jenem Abend gegen Piya verschworen. Sie hatten ihr gut zugeredet und sie damit beruhigt, daß alles vorbei und sie in Sicherheit sei – aber sie hatten es ihr unmöglich gemacht, darüber zu sprechen. Es war gut gemeint gewesen, hatte aber alles kaputtgemacht – mittlerweile wußte Maya das. Und es gab nur einen Weg, es wieder richtigzustellen.
Aditi warf sich den restlichen Laddu auch noch in den Mund. »Aber Sie kennen doch den Lauf der Welt. Kein Mensch will das alles wieder aufwärmen.«
»Das stimmt nicht.«
»Also«, sagte Aditi und wischte sich die
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