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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Sterben. Er hatte alles, Ärzte, Krankenschwestern und so weiter, aber er brauchte jemanden, der nachts für ihn da war. Ich habe bei ihm im Zimmer geschlafen. Und so habe ich Cheryl kennengelernt.«
    »Sie hat auch für ihn gearbeitet?«
    »Sie war seine Tochter.«
    Mayas Augenbrauen hoben sich.
    »Ja, das ist haargenau das, was ihre Familie gedacht hat. Den Hausangestellten heiraten. Riesenskandal. Ich brauchte eine Aufenthaltserlaubnis, sie brauchte einen Rebellen, und damit hatte sich die Sache.«
    »Hast du sie geliebt?« Maya stellte sich ein lichtdurchströmtes Zimmer vor, nach Zigarettenrauch riechende Möbel, eine große, elegante Frau im weiten Männerhemd.
    Er schien über die Frage nachzudenken. »Ein bißchen vielleicht schon. Es war keine rein geschäftliche Sache. Wir mußten ja zusammenleben und einander kennenlernen. Aber am Ende konnten wir einfach nicht zusammenbleiben.«
    »Und warum nicht?«
    »Weil die Beziehung nicht komplett war. Ich konnte ihr nicht alles erzählen.«
    Das Essen kam, zwei Fleischfladen zwischen matschigen Brotschichten. Maya nahm einen Bissen, bei dem ihr das Fett die Finger herunterlief. Der Hamburger schmeckte salzig, und feurig scharf von den Chilis. Sie beschloß, daß es ihr schmeckte. »Gar nicht schlecht, deine amerikanische Spezialität«, sagte sie und wischte sich den Mund ab. »Und dann hast du die Beziehung beendet.«
    »Ich bin zurück nach Hause gekommen.«
    »Die arme Frau. So allein gelassen zu werden.« Sie dachte anCheryl, die jetzt ohne Joys stabilen Körper auskommen mußte. Wie hohl ihr das Leben ohne ihn erscheinen mußte.
    »Sie hätte nicht mit mir zusammen hier leben können.«
    »›Und nie werden die beiden zueinander finden‹?«
    Er zuckte verständnislos die Achseln.
    »Kipling, du weißt schon. Der Osten bleibt der Osten.«
    »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Ach, nichts. Etwas, das ich in einem Buch gelesen habe.« Jetzt erinnerte sie sich wieder, daß er nie so gern gelesen hatte wie Sohail und sie.
    »Ich bin nicht so schrecklich belesen.« Er knüllte die Serviette zusammen und warf sie auf seinen leeren Teller. »Nicht wie dein Bruder.«
    »Mach dir nichts draus. Er hat seine Bücher sowieso alle verbrannt.«
    »Verbrannt?«
    »Genau. Wie Hitler. Im Garten.«
    Joy schlug die Hand vor den Mund.
    »Ja, wirklich.« Sie hatte das Ereignis so viele Male Revue passieren lassen, daß sie vergessen hatte, wie schockierend es war.
    Sie saßen einen Augenblick da und stocherten in den Überbleibseln ihres Essens herum. Joy fragte sie nicht, warum oder wie Sohail seine Bücher verbrannt hatte, und sie war froh, daß sie es nicht zu beschreiben brauchte.
    »Damit hast du meine Frage wahrscheinlich schon beantwortet. Ich wollte wissen, warum du von zu Hause weggegangen und so lange weggeblieben bist. War es wegen der Bücher?«
    Sie machte eine Schneidebewegung mit der Hand. »In dem Moment war alles vorbei.«
    »Welches Jahr war das?«
    »77. Ich habe fünf Jahre länger gewartet als du.«
    »Stimmt. Du hattest höhere Erwartungen.«
    »Die Hungersnot, und dann starb Mujib, und dann kam das Militär an die Macht, und es war, als ob wir nie für unsere Freiheit gekämpft hätten. Aber als Sohail das gemacht hat – ich meine, er war ja nicht nur mein Bruder. Die Leute haben zu ihm aufgeblickt, sie haben ihn verehrt.«
    »Das tun sie immer noch«, erwiderte er.
    Er hatte recht. »Ja, ich habe es oft genug miterlebt.«
    »Und dann bist du abgehauen.«
    »Ich konnte es alles nicht mehr aushalten. Willst du hören, was für Jobs ich machen mußte? Bevor ich die Stadt verlassen habe, wurde ich zur Chirurgin ausgebildet. Und dann war ich eines Tages auf der Durchreise durch irgendeinen kleinen Ort, ich weiß nicht mal mehr genau, wo, und habe eine Frau schreien hören. Die Wehen hatten eingesetzt, und sie hockte im Hinterzimmer einer Schneiderwerkstatt auf dem Boden. Ich habe ihr geholfen, das Kind auf die Welt zu bringen, und habe mich gefühlt – na, jedenfalls besser als zuvor. Als ob ich endlich zu etwas gut wäre. Nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte, bin ich dann ganz in die Geburtshilfe gegangen. Ich habe eine Ambulanz aufgemacht, habe den traditionellen Geburtshelferinnen beigebracht, keine verrosteten Messer zu benutzen und ihre Instrumente vorher auszukochen. Ich habe die Männer davon überzeugt, ihre Frauen ins Krankenhaus zu bringen, wenn sich Komplikationen ergaben.«
    »Hast du dir auch eigene Kinder gewünscht?«
    Maya zögerte.

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