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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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»bitte kommen Sie, sie wartet.«
    Rokeya atmete stockend. Als sie Maya sah, kniff sie erleichtert die Augen zu und sagte: »Ich wußte, daß du kommen würdest.«
    Maya wusch sich die Hände in einer Waschschüssel und tastete Rokeya den Bauch ab. Dann sagte sie der jungen Frau, wie sie atmen sollte, während sie die Untersuchung durchführte. Rokeya zuckte zusammen, als Maya den Arm in sie steckte und den Muttermund ausmaß. »Jetzt mußt du dich entspannen«, sagte sie und verfiel schnell in den besänftigenden Tonfall, den sie nur bei Gebärenden verwendete. Mit leichten Fingern fühlte sie nach der weichen Wölbung des Köpfchens. Statt dessen spürte sie das Hinterteil des Babys. Beckenendlage. Sie hätte ins Krankenhaus gebracht werden müssen, aber jetzt war es zu spät und die Geburt schon zu weit fortgeschritten. Maya hatte schon Steißgeburten durchgeführt, aber sie waren immer riskant, und die Niederkunft dauerte. Und wo war Rokeyas Mann? Nirgendwo zu sehen. Man fragte besser nicht, nicht jetzt. »Hör mir gut zu, Rokeya. Mach die Augen auf.«
    Rokeyas Augenlider gingen flatternd auf.
    »Dein Kind liegt verkehrt herum. Hörst du mich? Nicke, wenn du mich verstanden hast. Es ist jetzt zu spät, um etwas zu unternehmen, du mußt gebären. Keine Angst, das geht alles. Es wird länger dauern, und es wird weh tun.« Der Po des Babys würde als erstes herauskommen, dann die Beine. Sie konnte keine Hilfestellung leisten; wenn sie das Ungeborene berührte, konnte es sein, daß es die Ärmchen ausstreckte und im Geburtskanal steckenblieb.
    Rokeya nickte und kniff die Augen wieder fest zu.
    Als die Preßwehen anfingen, zog Maya sie in eine hockende Haltung. »Wenn die nächste Wehe kommt, dann preßt du, ja? Preß, so stark du kannst.«
    Bei jeder Wehe senkte Rokeya den Kopf und ächzte. Leise, leiser, als Maya je eine Frau stöhnen gehört hatte. Maya flüsterte einen Strom ermutigender Worte, aber das Mädchen schiennicht hinzuhören, atmete nur laut aus den Nasenlöchern aus und ballte die Hände zu harten, weißen Fäusten.
    Ihre Schwester kam und ging, kochte Wasser für Rokeya ab, hielt ihr den Kopf. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen, doch ohne Hilfe von außen konnte sich das Baby jedesmal nur wenige Millimeter nach unten bewegen. Eine Stunde verging. Und noch eine. Rokeya fiel auf den Rücken. »Ich schaff’s nicht«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr.«
    Maya spähte zwischen Rokeyas Beine. »Aber jetzt dauert es nicht mehr lange, nur noch ein paar Minuten. Es ist schon fast da.«
    Rokeya schüttelte den Kopf. »Kann nicht mehr«, flüsterte sie.
    »Du mußt. Es geht nicht anders.« Maya versuchte, sie wieder hoch in die Hocke zu ziehen, aber sie fiel zurück auf die Matratze und schüttelte den Kopf. Jetzt schrie Rokeya, als das Baby auf sie drückte, ein tiefer, schwarzer Schmerzensschrei. »Streng dich an«, sagte Maya, »das Baby will herauskommen, du spürst es doch selbst, ich weiß, daß du es schaffst.«
    Rokeya war zu erschöpft, um sich zu rühren. Maya trat hinter sie, schob sie hoch in eine sitzende Haltung, ging in die Hocke und hielt sie unter den Armen fest. Mit dem Mund war sie ganz nah am Ohr der Frau. »Weißt du was? Es ist ein Mädchen. Ich habe es bei der Untersuchung ertastet. Das ist dein kleines Mädchen. Weißt du, wie schwer es ist, ein kleines Mädchen auf dieser Welt zu sein? Willst du ihr nicht zeigen, daß du sie liebst, jetzt schon, bevor sie auf der Welt ist? Sag’s ihr. Sag’s ihr jetzt. Wir pressen gemeinsam.« Maya packte Rokeya ganz fest, während sie preßte, und ihre Kraft schien zurückzukehren, als das Baby sich senkte. Maya sah die Beine des Säuglings. Mit der nächsten Preßwehe wurden auch Rumpf und Schultern sichtbar. Jetzt waren die Arme frei, und Maya konnte vorsichtig ziehen und den Babyhals stützen. »Eine noch«, sagte sie, aber Rokeya hatte die Situation jetzt völlig unter Kontrolle, ihr Körper diktierte jeden Atemzug. Das Kinn des Babys kam zum Vorschein, die Nase, die mit gelbem und grünem Schleim bedeckten Augen, Überbleibsel einer bereits vergangenen Welt. Maya hob das kleine Mädchen hoch, deren Arme und Beine kraftlos zur Seite fielen, massierte die winzige Brust und wartete auf den Schrei, und dann kam er, hoch und kräftig und majestätisch. Bevor Maya das Neugeborene der Mutter in den Arm legte, flüsterte sie, genau wie bei allen anderen Geburten: Hallo, du kleiner Lurch. Irgend jemand mußte die Fremdheit dieser Seele

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