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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Wiedersehen mit Brideshead . In Richtung Evelyn Waugh sagte sie: »Es war noch früh, man hat fast nichts gesehen. Es muß gegen Ende des Kriegs passiert sein.
    Sie wollte eine Abtreibung. Jetzt gleich, hat sie gesagt. Mach’s jetzt gleich. Ich war beschäftigt und hatte zehn andere Patientinnen an dem Morgen, aber ich habe ihr gesagt, sie solle warten, ich würde sie dann drannehmen. Heute, hat sie gesagt, es muß heute sein, sonst schaffe ich es nicht. Ich sag es ihm , sagte sie. Mir war nicht klar, was sie damit meinte, aber ich habe mit der diensthabenden Ärztin gesprochen und einen Termin für Piya vereinbart. Aber als sie dann endlich an die Reihe kam, war sie durcheinander. Ich bin mir nicht mehr sicher, hat sie gesagt. Sie hat nach dir gefragt, sie wollte wissen, ob ich Sohail Bhai anrufen könnte. Aber du warst an dem Tag in der Kaserne, weißt du noch, du warst dort, weil du aus der Armee entlassen werden solltest. Es gab Formalitäten zu erledigen, und du warst den ganzen Tag lang weg. Ich dachte, sie hätte Angst, einfach Angst, so wie alle anderen. Ich dachte, es wäre besser, mit ihr nach Hause zu fahren, aber dann dachte ich daran, was sie gesagt hatte; daß es an dem Tag sein mußte, sonst würde sie den Mut nicht noch einmal aufbringen. Ich wußte, wie man mit so einer Situation umgeht, ich habe das ja ständig gemacht und die Mädchen davon überzeugt, daß es das Richtige war, für sie und für unser Land. Nach der Operation kannst du einfach nach Hause gehen, habe ich gesagt, deine Familie nimmt dich wieder auf. Du bist eine Birangona, versuchte ich sie zu überzeugen, eine Kriegsheldin –«
    Die Worte fielen Maya alle wieder ein, die Worte, die ihr beigebracht worden waren.
    »Vom Feind geschändet. Das Kind in deinem Schoß ist ein Bastard, eine Giftbombe. Es darf nicht auf die Welt kommen. Du darfst ihm nicht deine Muttermilch zu trinken geben. Was geschehen ist, läßt sich ungeschehen machen. Du brauchst nicht für den Rest deines Lebens damit zu leben. Du brauchst nicht die Mutter dieses Kindes zu werden. Stell es dir nicht als dein Kind vor, es ist der Samen des Feindes, habe ich zu ihr gesagt. Schließlich willigte sie ein.«

    Sohail schwitzte, schmale Rinnsale durchteilten sein Gesicht. Er machte keine Anstalten, sie abzuwischen. Er dachte an den Tag zurück, an dem er Piya im Gefängnis gefunden hatte, wie er sie dort hinausgetragen hatte und ihre kurzen Haarstoppeln sich an seinem Schulterblatt gerieben hatten. »Bring mich heim«, hatte sie gesagt, »ich will nach Hause, bring mich nach Hause.«
    Sie waren in einem kleinen Bambuswäldchen, so weit weg von der Baracke, wie er sie tragen konnte. Doch das Land war eben wie ein Tisch, und jedesmal, wenn ihr das Gebäude wieder vor Augen kam, heulte sie laut auf. Er lehnte sie mit dem Rücken an einen Baum, wo sie das Gefängnis nicht sehen konnte, und setzte sich in ihr Blickfeld, wo die Sonne ihr ins Gesicht fiel, so daß er einen langen, eleganten Schatten auf sie warf. »Mein Dorf liegt Richtung Osten«, sagte sie.
    Sie hatten sie in einem Jeep dorthin verschleppt. »Es war noch ein Mädchen da, aber das ist gestorben.«
    Sie sagte ihm den Namen ihres Dorfes. Dhanikola. Bringst du mich hin? Der Krieg ist vorbei, sagte er zu ihr. Sie konnten laufen. In jedem Dorf wurden sie erschöpft, aber herzlich begrüßt und bekamen etwas von den kleinen Resten der Ernte ab, die noch vom Krieg übriggeblieben waren. Ein Dorf nach dem anderen, Pahara, Mormora, Lakhet. Jede Mutter wollte, daß er ihr Sohn war und müde und heil mit einer Frau im Arm nach Hause kam.
    Sie war achtzehn. »Meine Schwester ist genauso alt wie du«, sagte er.
    »Du hast eine Schwester?«
    »Ja, Maya heißt sie. Sie hat in den Flüchtlingslagern in Indien gearbeitet.«
    »Ganz allein?«
    »Sie ist eine sehr mutige junge Frau.«
    Piya hatte weit auseinanderstehende Augen und eine rauhe, schmerzerfüllte Stimme. Am dritten Tag watete sie in einen Dorfteich. Aus Angst, daß sie untergehen könnte, behielt er sie genau im Blick. Die Sonne beschien ihren Rücken, glänzte auf ihren Händen, die sich über das Wasser bewegten, als sie weiter hineinging. Als sie bis zum Hals unter Wasser war, tauchte sie mit dem Kopf unter. Ihr Sari schwebte wie eine große Blüte auf der Wasseroberfläche. Und als sie wieder auftauchte, war sie verändert, als hätte sie unter Wasser all ihren Knochen gesagt, sie sollten sich wieder ordnen. Und so kam sie wieder aus dem Wasser: diszipliniert,

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