Mein fremder Bruder
Mahlzeiten aus grobem Brot und Curry aus grünen Bananen. Orange und Gelb und Gold und grüne Bananen. Damit zeigte er jetzt auf sie, mit der Ecke eines gestohlenen Buchs, das gleich in der Dunkelheit einer Kiste versenkt und nie wieder von dem Soldaten angefaßt und laut vorgelesen werden würde, dessen Verse nie wieder von seiner Kehle gestreichelt werden würden, weil seine neue Liebe nur einen einzigen Dichter erlaubte.
»Es hat nichts mit Silvi zu tun.«
»Hast du auf einmal was gegen Bücher?«
»Alles hat seine Grenzen, Maya.«
»Ich bin ganz deiner Meinung. Alles hat seine Grenzen. Hast du dich nicht deswegen dem Guerillakampf angeschlossen?«
»Und, was hat es uns genützt?«
»Ich weiß, daß es momentan so aussieht, aber es wird ja nicht immer so bleiben.«
»Es spielt keine Rolle. Es gibt ein Leben nach diesem Leben.«
Er packte den Rilke weg, zog den nächsten Band aus dem Regal und warf ihn in die Kiste.
»Ich will, daß du mit mir darüber redest«, sagte Maya. »Du hast mir nie etwas über den Krieg erzählt.«
»Was hätte ich dir erzählen sollen? Wir haben gekämpft, und wir haben gewonnen. Am Ende hat es ja keine Rolle gespielt, oder?« Er zog sich die Mütze vom Kopf und drückte sie in den Händen. Seine Haare waren dicht an der Kopfhaut abgeschoren. Mehr als je zuvor im Krieg sah er wie ein Soldat aus.
Sie wußte, daß er ihr jeden Augenblick entgleiten konnte. Für immer weg. Was konnte sie bloß sagen, um ihn festzuhalten? Wahrscheinlich nichts. Silvis Macht über ihn war zustark, und sie hatte den Allmächtigen im Rücken. Ein furchteinflößender Feind. Doch eines gab es, eine Sache, die sie Sohail nie gesagt hatte. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, es ihm zu erzählen, ihm einen Schock zu versetzen, damit ihm ein für allemal klar wurde, daß er nicht als einziger unter seinen Verfehlungen litt. »Ich will mit dir über Piya reden«, sagte sie.
Er fuhr herum und sagte mit verschwörerischer Stimme zu ihr: »Das ist vorbei, Maya.«
Sie wußte, daß er sich das selbst einzureden versuchte. Sie wußte, daß er jeden Tag an Piya dachte. Jeden Tag dachte er an sie und fragte sich, wohin sie verschwunden sein mochte. Genau wie Maya.
Sie nahm ihm die Kappe aus den Händen und machte Platz, damit sie sich setzen konnte. Er war plötzlich ganz aufmerksam und saß, die Hände auf Bücherstapel gestützt, wie ein König auf dem Thron da. Jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Sie würde es ihm erzählen, stellte sie sich vor, und dann würde er alle Bücher wieder auspacken und zurück auf die Regale stellen. Er würde seine schlabbrige Hose gegen Jeans eintauschen und ein Tonbandgerät kaufen, damit sie Simon and Garfunkel hören konnten.
Sie schluckte und fing an. »Es war kurz nach der Befreiung, kurz nachdem Piya zu uns gekommen ist. Ich habe beim Rehabilitationszentrum für Frauen gearbeitet. Ammu auch. Wir hatten uns da zusammen als Freiwillige gemeldet. Ammu hatte die Aufgabe, mit den Kriegswitwen zu sprechen und ihnen mit den Pensionszahlungen und Erbschaften zu helfen. Bei den Verhandlungen mit der Verwandtschaft der verstorbenen Männer.« Sie atmete tief durch, um Mut für ihr Geständnis zu sammeln. »Und weil ich medizinisch ausgebildet war, von der Arbeit im Flüchtlingslager, da haben sie mich für die Klinik eingeteilt, Bhaiya. Ich habe Abtreibungen durchgeführt.«
Sie faltete Sohails Gebetsmütze zusammen und wieder auseinander und wieder zusammen. »Ich habe es dir nicht erzählt.Du hast gedacht, ich würde mich um die Kranken kümmern, aber wir hatten einen richtigen OP hinten, wohin die Frauen kamen, um ihre Schwangerschaften abbrechen zu lassen. Weißt du noch, was Sheikh Mujib damals gesagt hat? Er wollte die Bastarde nicht in unserem Land haben. Aber für einige der Frauen war es schwierig, weißt du, damals habe ich mir gar nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Sie wollten die Kinder nicht haben, aber wenn es dann soweit war, haben sie geweint. Und dann sind sie aus der Narkose aufgewacht und wollten die Kinder wiederhaben. Eines Tages kam Piya in die Praxis. Sie wollte mich sprechen – Ammu wußte nichts davon, sie war direkt nach hinten in die Klinik gekommen. Ich sollte sie untersuchen. Sie war schwanger, Bhaiya, wußtest du das?«
Sie konnte ihn nicht ansehen. Sie ermahnte sich: Schau ihn an, wenn du’s ihm sagst. Aber sie konnte nicht, sie konnte ihn nicht ansehen. Sie sah statt dessen die Bücher an. Ihr Blick fiel auf
Weitere Kostenlose Bücher