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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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hören. Sie zog ihn näher – ihr Mund berührte seinen Hals. Glatt, mit einem Anflug kratziger Stoppeln. Rauhglatt. Zitronenrasierwasser. Sie atmete aus. Jetzt hörte sie ihn auch, seine Lippen an ihrem Ohr.
    »Ich will dir etwas über Liebe erzählen«, sagte er. »Sie haben mir den Finger mit einem Schlachtermesser abgehackt, wußtest du das? Ich weiß nicht, wo sie das herhatten, so ein großes, schweres Messer. Aber weißt du, was ich gedacht habe, als sie mir das angetan haben? Ich habe gedacht, daß du von allen Menschen, die ich kannte, die einzige wärst, der das nichts ausmachen würde. Und als ich nach Hause kam und meine Mutter im weißen Sari gesehen habe, da wußte ich, daß du auch das verstehen würdest, weil dein Vater schon so lange tot ist. Ich habe dich immer geliebt«, sagte er. »Immer.« Er löste sich von ihr und sah sie sehr ernst an, die Hände auf ihren Schultern.
    »Versprich’s mir«, flüsterte Maya.
    »Alles, was du willst.«
    »Daß du mich nicht zwingen wirst zu vergessen. Wer wir sind.«
    »Ich verspreche es.«
    Er machte eine Faust um ihre beiden Hände. Danke. Er hob sie an seine Stirn. Danke.

    *

    Maya spürte, wie jemand an ihr rüttelte. »Apa, Apa.« Eine Frau stand am Fußende des Betts und schwenkte ihre in Handschuhen steckenden Arme durch die Luft wie eine Pantomimin.
    »Wer sind Sie?«
    »Ich bin Rokeyas Schwester. Verzeihen Sie, daß ich Sie mitten in der Nacht aufwecke, aber Rokeya hat gesagt, ich soll Sie holen. Sie hat fürchterliche Schmerzen.«
    »Gehen Sie vor, ich komme gleich nach oben.«
    »Nein, sie ist nicht oben, sondern bei uns zu Hause. Beeilen Sie sich, die Rikscha wartet.«
    Maya zog einen zerknitterten Salwar Kamiz über, fuhr schnell mit den Füßen in Chappals und rannte zur Hintertür hinaus, an Sufia vorbei, die jetzt neben dem Küchenherd schlief, seit die Nächte kälter wurden.
    In der Rikscha sah Maya sich Rokeyas Schwester genauer an. »Haben wir uns schon einmal gesehen? Sind Sie oben bei der Jamaat dabei?« Sie fuhren in Richtung Nordseite der Stadt; der Rikschawallah strampelte mit einer Bidi im Mundwinkel schnell durch die leeren Straßen.
    »Einmal war ich da, aber ich wollte nicht bleiben. Khadija war wütend darüber, daß Rokeya nicht unsere ganze Familie mitgebracht hat.«
    Die junge Frau war von Kopf bis Fuß verschleiert; nur durch ein winziges Stückchen Chiffon konnte sie wie durch eine schmutzige Glasscheibe hinaus in die Welt blicken. Sie hob den Schleier hoch und zeigte ihr Gesicht. Es leuchtete blaß und perfekt in der Dunkelheit. »Khadija oder wie sie heißt – sie ist eine herzlose Frau.«
    »Ihre Predigten sagen Ihnen nicht zu?« Maya dachte an dieandächtigen Gesichter der anderen Mädchen und wie sie Khadija mit offenen Mündern atemlos umschwirrten.
    »Immerhin ist sie von allem überzeugt, was sie sagt. Das ist wenigstens etwas. Aber ich kann nicht wie ein Esel hinter jemandem herrennen.«
    »Und warum sind Sie dann so gekleidet?«
    »Wie hätte ich Sie denn sonst mitten in der Nacht holen sollen?«
    Maya ließ sich das durch den Kopf gehen. Eine junge Frau wie sie hätte sich ohne den Schutz der Verschleierung wahrscheinlich nie hinaus auf die Straße getraut. Die praktische Antwort beeindruckte sie. Sie drückte dem Mädchen die Hand. »Wann haben die Wehen eingesetzt?«
    »Vor mehreren Stunden. Sie wollte nicht ins Krankenhaus. Als sie zu uns zurückgekehrt ist, war sie halb verhungert, wir dachten, sie würde nicht durchkommen.«
    »Warum das denn?«
    »Sie will es uns nicht sagen. Sie wurde für irgend etwas bestraft.«
    Jetzt fiel Maya wieder ein, wie sie Rokeya zweimal draußen in der prallen Sonne hatte knien sehen. Warum hatte Maya nichts unternommen? Sie war einfach davon ausgegangen, Rokeya würde das aus eigenem Antrieb tun, und hatte es den bizarren Ritualen von oben zugeschrieben. Jetzt überkamen sie Schuldgefühle. »Das tut mir leid, das habe ich nicht geahnt.«
    »Wir steigen hier aus«, sagte das Mädchen zum Rikschafahrer. »Den Rest des Weges müssen wir laufen.« Sie hatte eine Taschenlampe dabei, und sie bewegten sich vorsichtig durch die immer schmaler werdende Gasse voran, bis sie schließlich zu einem kleinen Haus kamen, an dessen Haustür nur ein Vorhang hing. Es gab ein vorderes Zimmer und ein hinteres Zimmer und dahinter wahrscheinlich eine Küche, die mit den Nachbarn geteilt wurde.
    Rokeyas Vater erblickte Maya und senkte höflich den Blick.»Subhan allah«, sagte er mit belegter Stimme,

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