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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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anerkennen und die Strecke, die sie zurückgelegt hatte, die Millionen und Abermillionen Jahre, um hier anzukommen.
    Sie hatte die Geburt von so vielen dieser Wesen miterlebt, hatte ihre Händchen gehalten, wenn sie das unterirdische Meer verließen und ans Ufer kamen, aber den Gedanken, daß dieses Geschenk des Lebens irgendwann einmal ihr selbst gehören könnte, hatte sie sich nie erlaubt. In der kurzen Ruhepause, die folgte, gestattete Maya sich diese kurze Phantasievorstellung. Etwas Eigenes. Sie dachte an Joy, das Kind, das sie mit ihm zusammen haben könnte, ein wundersames kleines Wesen, das ihr gehören würde, ihr allein.

    Das warm in eine Katha verpackte Neugeborene wurde der Familie überreicht, während Maya Rokeya versorgte. Sie hielt eine Nadel vor die Flamme der Petroleumlampe und fädelte einen Faden ein. »Jetzt tut es noch mal weh«, sagte sie. »Es tut mir schrecklich leid.«
    Rokeya biß sich auf die Lippen. »Ich muß dir etwas sagen«, keuchte sie, die Finger um die Matratze gekrallt.
    »Jetzt?«
    »Ja«, antwortete sie, »ich muß es dir jetzt sagen. Es geht um den Jungen.«
    Maya wollte gerade einen weiteren Stich machen, erstarrte aber. »Zaid?«
    »Wußtest du, daß er aus der Madrasa weggelaufen ist?«
    Maya konzentrierte sich auf die Nadel, hinunter, wieder hinauf, das Verschließen der Wunde. »Er ist weggerannt?«
    »Als deine Mutter im Krankenhaus war.«
    Er hatte gelogen. Wie albern von ihr, daß sie es nicht gleich gewußt hatte. »Hast du mit ihm gesprochen?« fragte sie.
    »Nur ein paar Minuten, dann hat Schwester Khadija ihn gefunden. Ich habe ihn gefragt, warum er weggerannt ist. Er hat gesagt, der Huzur würde ihn immer zwingen, sich hinzulegen. Was meint er damit, Maya Apa? Ich denke die ganze Zeit darüber nach, und im Grunde kann es nur eins heißen.«
    Maya hatte auf einmal das Gefühl, als hätte Rokeya alle Luft im Zimmer weggeatmet. »Du bist dir sicher, daß er das gesagt hat?«
    »Ich weiß, daß der Junge oft lügt. Aber das habe ich ihm geglaubt.«
    Im Grunde kann es nur eins heißen. Maya mußte das letzte bißchen ihrer Willenskraft aufbringen, um Rokeyas Dammriß fertig zu nähen und ihr Anleitungen zur Versorgung der Wunde zu geben. Dann schlüpfte sie schnell aus dem Zimmer, entschuldigte sich bei der Familie und sprang in die erste Rikscha, die sie finden konnte. Der Morgen dämmerte am Horizont, während der Himmel noch schwarz und voller Sterne war.

1977
November
    Sohail warf seine Bücher weg. Maya fand ihn, wie er sie abstaubte, alphabetisch ordnete und in Kisten verpackte. Die liebevolle Art, mit der er das machte, wie er jede Kiste mit Zeitungspapier ausschlug und die Bücher sorgfältig hineinlegte, machte sie rasend. Sie sah, wie er mit sich kämpfte, als seine Hand über diesen Titel oder jenen Buchrücken strich. Wie er die Bücher aufschlug, eine Seite las – bei Ibsen verweilte, vielleicht kurz über Hedda oder Nora nachdachte – und dann jeden Band mit den Frauen aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt, die ihm jetzt verboten war, endgültig zuklappte.
    Da, als er inmitten von Büchern wie in einem Fischschwarm und sie in der Tür seines Zimmers stand, stellte sie ihn zur Rede. Die Antwort kannte sie schon, hatte sie schon lange gekannt, die Veränderungen an seiner Kleidung, die eingestaubte Gitarre. Silvi, sagte sie, ich weiß, daß Silvi dahintersteckt.
    »Sie ist meine Frau. Du hast kein Recht, so über sie zu sprechen.«
    »Dann ist das deine eigene Idee?«
    »Ich habe mich dazu entschieden.« Er hatte einen Rilkeband in der Hand, den er in ihrer Richtung schüttelte.
    Diese Bücher zu bekommen war gar nicht einfach gewesen. Jedes einzelne Exemplar hatte er mühsam auf dem Neuen Markt ergattert, wo er, auf der Suche nach den Büchern, die sie angeblich nicht hatten, sich auf einem Hocker vor den Bücherständen sitzend in die verstaubten Ecken voller Spinnweben vorgebeugt hatte. Lawrence, Fitzgerald. Der scharlachrote Buchstabe. Er liebte die aus der Gesellschaft ausgestoßenen Heldinnen, Lily Bart und Hester Prynne und Moll Flanders. Den Rilke hatteer, wie sie genau wußte, aus der Universitätsbibliothek entwendet. Der Gedichtband hatte sich an ihn geheftet und wollte mit nach Hause genommen werden; er wollte in den Rucksack eines Soldatenjungen gestopft, vom Regen und der wassergesättigten Monsunluft aufgeweicht werden. Er war im blaß orangeroten Schein einer Petroleumlampe gelesen worden, im Goldgelb einer Kerzenflamme, bei

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