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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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sechsundzwanzig?«
    »Ich bin verdammt noch mal zweiunddreißig. Meinst du, ich wäre verdammt noch mal zweiunddreißig und unverheiratet, wenn ich kein Problem mit der Ehe hätte?«
    »Und ich hab gedacht, du hättest nur noch nicht den Richtigen gefunden.«
    »So was gibt’s nicht.«
    »Was, den richtigen Mann?«
    »Am Anfang sind sie in Ordnung, aber irgendwann werden sie zerbrechlich wie Glas, und du mußt dein ganzes Leben damit zubringen, sie im Arm zu wiegen und zu trösten, damit sie sich gut fühlen, während dein eigenes Leben sich in einen Haufen Scheiße verwandelt.« Sie schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett.
    »Geht es um Shafaat?«
    »Was – Shafaat? Ach, jetzt bist du also eifersüchtig. Genau das, was ich gemeint habe. Empfindlich wie eine Eierschale. Und jetzt hör auf zu grinsen, verdammt noch mal, das ist nicht lustig.«
    »Sticht wie eine Biene«, sagte er leise und zärtlich.
    Sie waren jetzt in der Nähe Paltans, und sie lehnte sich aus dem Fenster, um Paltan Maidan zu sehen, das riesige freie Feld, das sie so gut kannte. Als das Auto um die Kurve fuhr, sah sie ein hell erleuchtetes Zeichen. Sie hämmerte gegen die Scheibe. »Halt an – halt. Stopp.«
    Erschreckt trat er auf die Bremse. »Was?«
    Sie riß die Tür auf und sprang aus dem Auto. »Was ist das?« Es war dunkel und schwer zu erkennen, was hinter dem Eingangstor war, aber sie sah etwas, das wie ein Riesenrad aussah, und dahinter Kunststofftiere mit menschlichen Gesichtern. Es mußte ein Spielplatz sein, ein Rummelplatz für Kinder. SHISHU PARK stand auf dem Schild.
    Maya schrie. »Shishu Park!« Sie rüttelte am Tor. »Wußtest du das?«
    Sie sah, daß Joy ausstieg und auf sie zukam. Er mußte wissen, warum sie weinte und am Tor rüttelte. »Wer war das?« schluchzte sie. »Wer war das?«
    »Ich weiß es nicht.« Er stand ein paar Schritte von ihr entfernt und rauchte eine Zigarette. Sie wollte sich da hinsetzen, direkt vor das Tor, bis jemand kam und ihr erklärte, warum Paltan Maidan in einen Rummelplatz verwandelt worden war. Sie fuhr mit den Händen über die Gitterstäbe. Als Joy zu Ende geraucht hatte, kam er und legte von hinten die Arme um sie. Dann führte er sie zum Auto und hielt ihr die Tür auf, bevor er selbst einstieg und den Motor wieder anließ. Als sie gewendet hatten, hatte sie sich das Gesicht schon wieder im Sari getrocknet.
    »Es ist doch nichts als eine Wiese«, sagte sie, »nur ein freies Feld. Sie hätten alles mögliche damit machen können, sie hätten es auch einfach in Ruhe lassen können.« Sie stellte ihn sich vor, diesen Rummelplatz, ein Ort, der tagsüber mit Zeitungspapiertütchen von gerösteten Erdnüssen und kleinen Puffreisflocken, an denen das Senföl klebte, und mit den Bändern, die den kleinen Mädchen aus den Haaren wehten, wenn sie vom Autoskooter zum Riesenrad rannten und kreischten, ihre Eltern sollten ihre Hand halten, und mit Schnürsenkeln und Papierchen von Mimi-Schokolade und rosa Glukosekeksen übersät war. Ein Rummelplatz. Paltan Maidan, der heiligste Ort des ganzen Landes, der Ort, an dem Mujib seine Reden gehalten hatte, an dem die pakistanische Armee kapituliert hatte, der Ort, an den Mujib nach neun Monaten im Exil zurückgekehrt war und den Staat Bangladesch ausgerufen hatte, wo er sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen gewischt hatte, mit dem er dann den Menschen gewinkt hatte, den Tausenden und Abertausenden, als wollte er sagen: Ich bringe euch Frieden, ich bin euer Vater.
    Es war der Ort, an dem sie, einen Augenblick lang, gewonnenhatten. Und jetzt wurde ihre Geschichte unter Erdnüssen und Zuckerwatte begraben und in den Boden getrampelt.

    In einer schmalen Seitenstraße hielt Joy den Wagen wieder an. Er öffnete seinen Sicherheitsgurt und drehte sich zu ihr hin. Wenige Meter entfernt war ein Bidiverkauf am Straßenrand. Der Mann hinter dem Stand schlief, die Füße über Kreuz, den Arm über den Augen. Ihr kamen wieder die Tränen. Alle anderen gingen Tag für Tag an diesem Park vorbei, kauften sich Eintrittskarten, gingen hinein und amüsierten sich prächtig. Niemand außer ihr war zornig.
    Joy zog ihr die Hände vom Gesicht weg. »Ist ja gut«, sagte er. »Als ich es das erste Mal gesehen habe, habe ich auch geheult.« Er lehnte sich zu ihr vor. Er duftete nach Zitronen. Sie spürte, wie ihre Sinne zum Leben erwachten. Sie legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn an sich. Lippen öffneten sich. Er sagte etwas, aber sie konnte nichts

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