Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
Normalität zu schätzen.
Rückblickend denke ich, dass genau das einer der Gründe war, warum mir die freien Tage mit ihr so wichtig waren: Grandma zeigte mir, dass es da draußen, außerhalb der Mauern der Sea Org, noch dieses andere Leben gab. Sie zeigte mir, dass Menschen wie Olivia, Julia und Mr. Anne Rathbun zwar besessen von der Erteilung immer neuer Anweisungen und Strafen sein mochten, dass es jedoch auch möglich war, Scientologe zu sein, ohne derart viele Verpflichtungen zu haben. Trotz ihres Glaubens und der Rücksichtnahme auf einen Sohn, der die Leitung der gesamten Church innehatte, war es ihr ein Leben lang gelungen, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.
Im Unterschied zu vielen anderen in der Kirche nahm sie sich selbst nie zu wichtig, ein Charakterzug, den ich sehr an ihr mochte und den ich auch bei Martino sah und liebte.
KAPITEL 19
»Think for yourself«
Es begann den anderen aufzufallen, wie viel Zeit Martino und ich miteinander verbrachten. Einige behaupteten, wir seien verliebt. Cece, die früher einmal in ihn verknallt gewesen war, erzählte mir, er habe sich völlig verändert, seit wir uns kennen würden. Aus dem unreifen Jungen, der ständig herumblödelte und nervte, sei ein erwachsener Mann geworden, der sich in andere einfühlte und um andere sorgte. Ihre Bemerkung machte mich glücklich.
Leider fiel es Leuten auf allen Stufen auf, darunter auch den Erwachsenen. Martino wurde deutlich gesagt, er solle gefälligst weniger Zeit mit mir verbringen und stattdessen lieber am Clearing seiner falsch verstandenen Wörter arbeiten. Also arbeiteten wir von nun an nur noch wenige Tage die Woche zusammen. Bei diesen Gelegenheiten mussten wir gar nicht viel sprechen, um uns zu vergewissern, wie sehr wir einander vermissten. Es genügte, dass er sich zu mir beugte, sein Bein um meines schlang oder heimlich meine Hand nahm. Ich sehnte mich danach, die Gesten zu erwidern, aber das hätte ernsthafte Schwierigkeiten nach sich gezogen.
Mein Unmut darüber, in der CMO zu sein und nicht frei über meine Freundschaften und mein Liebesleben entscheiden zu können, wuchs stetig. Mein ganzes Leben hatte ich mich mit Regeln, Vorschriften und Forderungen auseinandersetzen müssen, aber so schwer war es mir noch nie gefallen, ihnen zu gehorchen. Durch Martino und dessen Freunde hatte ich meine alte Liebe zur Musik wiederentdeckt. Ich hatte sogar wieder angefangen, abends vor dem Schlafen zu zeichnen. Das hatte ich beim Essen oder in den fünf Minuten, bevor auf der Ranch das Licht gelöscht wurde, immer getan, aber in den darauffolgenden Jahren schienen all die Regeln, die zu beachten waren, meine Kreativität erstickt zu haben. Bei Scientology sorgten die Vorschriften dafür, dass wir uns alle gleich benahmen. Sie ermutigten die Leute nicht, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, obwohl der neue Scientology-Slogan lautete: »Think for yourself«. Sobald ich mich wieder mit Musik und Zeichnen beschäftigte, wurde mir bewusst, wie sehr ich das vermisst hatte und wie sehr ich es hasste, derart eingeschränkt zu sein. Es fühlte sich so natürlich an, meiner kreativen Seite Raum zu bieten.
Bei Martino hatte ich nicht das Gefühl, mich ständig vorbildhaft verhalten zu müssen. Ich wollte einfach nur ich selbst sein dürfen, wusste aber, wie unerreichbar diese Freiheit war. Die ganze Situation stürzte mich in einen inneren Konflikt: Einerseits wollte ich so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, andererseits fürchtete ich, dass unsere Freundschaft unhaltbar war. Und die Gefahr blieb auch den anderen nicht verborgen. Freunde, die uns zusammen sahen, raunten uns Warnungen zu, ermahnten uns, vorsichtig zu sein.
Ich beschloss, Tante Shelly einen Brief zu schreiben, in dem ich um meine Rücksendung zur Ranch bat. In meinem Antrag erwähnte ich Martino mit keiner Silbe, sondern betonte, dass ich wieder der Cadet Org auf der Ranch beitreten und meinen Schulabschluss machen wolle. Die CMO und Sea Org zu verlassen, um zurück zu den Kadetten zu gehen, war eine gravierende Entscheidung, so viel war mir klar. Wenn ihr überhaupt stattgegeben werden würde, machte ich damit in den Augen der Church einen großen Rückschritt – allerdings geschah so etwas auch nicht zum ersten Mal. Es gab Präzedenzfälle. Alles hing davon ab, wie meine Tante Shelly die Gesetze auf meine Situation anwandte. Bei einer Bewilligung würde ich Martino nicht wiedersehen, müsste mir aber zumindest keine Sorgen mehr darüber machen,
Weitere Kostenlose Bücher