Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
Geschichten aus der Vergangenheit, die wir uns gegenseitig erzählten, waren wir aber auch einfach zwei Fünfzehnjährige, die sich mochten. Manchmal gaben wir vor, in der Bibliothek arbeiten zu müssen. Dort zogen wir dann wahllos irgendein Nachschlagewerk aus dem Regal und lasen Artikel zu den verschiedensten Themen. Natürlich war Sexualverhalten das Lieblingsthema von Martino. Ich fand es komisch, wie offen er darüber sprach.
Unsere Unterhaltungen über Scientology verliefen ebenfalls ungewöhnlich. Wir redeten tatsächlich viel mehr über den Glauben, was wir sonst in keinem unserer Kurse taten. Wir sprachen über Thetane, und er war keineswegs davon überzeugt, einer zu sein. Für mich war es unfassbar, wie er so etwas sagen konnte. Ich wusste dagegen zweifellos, dass ich einer war.
»Und woher weißt du das?«, fragte er.
»Ich weiß es einfach«, erwiderte ich kategorisch.
In Wahrheit hatte ich keine Ahnung. Es war mir nur seit frühester Kindheit erzählt worden, und deswegen glaubte ich auch daran. Nie hatte ich mich als bloßen Körper verstanden. Nie hatte ich mich als bloßes Stück Fleisch verstanden, wie die Scientologen den menschlichen Körper bezeichneten. Die Vorstellung, Martino könne das anders sehen, ließ mich das ganze Konzept des Thetans auf eine Weise prüfen, die sich fremd anfühlte.
An anderen Tagen kamen wir auf Scientologys kostbarstes Geheimnis zu sprechen – die OT -Level. Da die Flag zu den wenigen Orten gehörte, an denen höhere OT -Stufen verliehen werden durften, war die geheimnisvolle Atmosphäre, die sie umgab, überall zu spüren. Regelmäßig informierten die höheren Ränge alle Mitarbeiter über verbesserte Sicherheitsvorkehrungen hinsichtlich der OT -Level und betonten dabei stolz die Tatsache, dass die Level nun sicherer denn je seien. In ihren Bekanntmachungen listeten sie auf, welche Maßnahmen die Verleihung der OT -Stufen nun perfekt schützten. So waren etwa gewisse Bereiche der Basis, die mit den OT -Level zu tun hatten, nur über Codeschlösser und spezielle Schlüsselkarten zugänglich.
Kein Wunder, dass mich diese ganze Heimlichtuerei nur noch neugieriger auf die Level selbst und die Geheimnisse dahinter machte. Ob es eine bewusste Taktik der Kirche war, kann ich nicht sagen, aber letzten Endes verstärkte das Gerede darüber das Verlangen, die Wahrheit zu erfahren, enorm. Ich konnte es kaum erwarten, die Brücke hinaufzusteigen und herauszufinden, was die OT -Level waren. Meiner Ansicht nach mussten sie etwas mit dem Ursprung unserer aller Existenz zu tun haben, eine Frage, die mich häufig beschäftigte. Manchmal versuchte ich, der Bibliothekarin Informationen oder zumindest ein paar Andeutungen über die Level zu entlocken, aber natürlich sagte sie nichts. Sie kannte genauso gut wie ich die Gefahr, dass man körperliche Schäden davontragen konnte, sollte man die Level ohne Einhaltung der richtigen Reihenfolge erlernen.
Diese verwirrende Idee, der Körper könne Schäden davontragen, fesselte mich fast ebenso wie der mysteriöse Inhalt der Stufen selbst. In meinen Gesprächen mit Martino kam ich immer wieder auf die simple Frage zurück: Wie konnten Informationen körperlichen Schaden verursachen? Dass jemand von Informationen emotional aus dem Gleichgewicht geworfen werden konnte, ergab Sinn – aber körperlicher Schaden? Ich versuchte mir vorzustellen, worin dieser Schaden bestehen sollte. Irgendetwas an dieser ganzen Idee schien nicht zu stimmen. Angst rief diese Androhung von Schmerz oder sogar Tod dennoch hervor.
Meine Diskussionen mit Martino waren so offen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Sie waren weder inhaltlich beschränkt, noch folgten sie einem vorgegebenen Ablauf. Sie entwickelten sich einfach nach der jeweiligen Situation und den Dingen, über die wir uns gerade gerne unterhalten wollten. Schon bald vertraute ich ihm an, dass meine Mom Schwierigkeiten hatte und im RPF steckte. Er war sichtlich betroffen, als ich ihm erzählte, was geschehen war. Nach diesem Tag erkundigte er sich ständig nach Neuigkeiten über meine Mutter und reagierte fast so aufgeregt wie ich, wenn ein Brief von ihr eintraf. Da Mr. Rathbun nie einen Brief freigab, konnte ich sie ihm zwar nicht zeigen, aber er freute sich dennoch.
Es war vor allem sein ehrliches Mitgefühl, das es mir erleichterte, mit seinen skeptischen Meinungen zur Church unbefangen umzugehen. Ich wusste, dass er eigentlich ein guter Mensch war, daher konnte diese Haltung nichts mit
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