Mein Geheimnis bist du
aufklappte, würde dort die letzte aktuelle Einstellung erscheinen. Die Mail, die Mareike zuletzt gelesen und die sie so abwesend angestarrt hatte.
Die nicht für dich bestimmt ist.
Zögernd näherte Andrea sich dem Tisch, blieb unentschlossen davor stehen. Sollte sie . . .? Aber das wäre eindeutig nicht in Ordnung. Man las nicht in anderer Leute Post. Post war etwas Privates, selbst wenn sie geschäftlich war. Aber hier handelte es sich ganz sicher um was Privates. So seltsam, wie Mareike reagiert hatte. Ein geschäftliches Problem hätte sie angesprochen.
Langsam streckte Andrea die Hand nach dem Laptop aus, zog sie zurück.
Du würdest auch nicht wollen, dass jemand in deinen privaten Sachen rumschnüffelt.
Doch wie unter einem Zwang streckte sich ihre Hand erneut aus und diesmal erreichte sie das Laptop, klappte es auf. Der Bildschirm flammte auf. Andrea setzte sich davor. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Dann las sie:
Liebe Mareike.
Ich habe dir nichts von Carla erzählt, weil ich sicher war, sie nie wieder zu sehen. Aber so ist das im Leben. Oft kommt es dann doch anders.
Carla und ich lebten zwei Jahre in New York zusammen. Sie ist Brasilianerin, Tochter eines alteingesessenen Zuckerbarons. Ihre Familie war immer gegen unsere Beziehung und schließlich drohte Carlas Vater, sie auszustoßen. Sie verließ mich, kehrte zurück nach Hause.
Du kannst das sicher nicht nachvollziehen, aber für Menschen wie Carla ist ein Leben ohne ihre Familie, selbst unter solchen Umständen, undenkbar. Um so tragischer, dass gestern ihre Eltern mit dem Privatflugzeug abstürzten. Carla braucht mich jetzt. Ich bin auf dem Weg zu ihr.
Carla ist das für mich, was ich für dich bin. Ich habe nie verstanden, wie du mir alle meine Fehler verzeihen kannst – bis ich sie traf.
Es tut mir unendlich leid, dass ich dich ein weiteres Mal enttäusche.
Laura.
Andrea saß regungslos vor dem Laptop. Automatisch las sie Lauras Mail ein weiteres Mal, immer noch ungläubig, was dort stand.
Dann die Erkenntnis.
Mareike geht nicht nach New York.
Das hieß das doch, oder? Warum sollte sie? Jetzt, wo Laura nicht mehr dort war. Und noch viel mehr, wo es auch keinen Grund mehr gab, Laura zu folgen.
Mareike geht nicht nach New York! , jubelte es in Andrea. Die Last, die ihr vom Herzen fiel, war so groß, dass sie im ersten Moment der Freude völlig vergaß, was das für Mareike bedeutete. Als Andrea bewusst wurde, wie Mareike sich fühlen musste, schämte sie sich ihrer Freude. Mareikes Enttäuschung saß natürlich tief. Kein Wunder, dass sie beim Abendbrot so schweigsam war und jetzt allein sein wollte.
Andrea klappte das Laptop zu, stand auf, schaute auf ihren Koffer. Sollte sie Mareike in dieser Situation allein lassen? Nein, das brachte sie nicht über sich. Auch wenn sie Mareike kaum helfen konnte. Vielleicht half es aber, dass sie da war. Und vielleicht würde Mareike ja mit ihr reden wollen.
Bis dahin musst du dich aber verhalten wie immer. Schließlich weißt du von nichts.
Mareike kam erst eine ganze Stunde später aufs Zimmer. Andrea sah fern.
»Du bist noch hier?«, fragte Mareike. »Wolltest du nicht ins Continental?«
»Da war auch nichts mehr frei«, gab Andrea vor. Sie hatte das Zimmer wieder abbestellt.
Mareike nickte nur abwesend. »Ich bin unheimlich müde«, sagte sie und verschwand im Bad.
Andrea wusste zwar nicht, wie lange Mareike normalerweise im Bad zubrachte, aber als sie nach einer halben Stunde immer noch drin war, begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie stand auf, klopfte vorsichtig an die Badezimmertür.
»Mareike? Ist alles in Ordnung?«
Keine Antwort.
»Mareike?«
Jetzt rührte sich was hinter der Tür. Mareike öffnete.
»Entschuldige, ich habe etwas gebummelt. Musst du auf Toilette?«
»Äh . . . ja.«
Zurück im Zimmer, fand Andrea Mareike bereits im Bett an, mit dem Rücken zur Bettmitte. Andrea schaltete den Fernseher aus.
»Es stört mich nicht, wenn du noch fernsiehst«, sagte Mareike leise.
»So spannend ist es ja nicht«, meinte Andrea. »Außerdem müssen wir morgen früh raus. Ich lege mich auch hin.«
Andrea bestellte bei der Rezeption noch den Weckruf für halb sieben, dann ging sie ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Es war für sie nicht erkennbar, ob Mareike schon schlief, als sie sich neben sie legte. Deshalb war ihr »Gute Nacht« mehr ein Flüstern.
»Gute Nacht«, erwiderte Mareike leise.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte Andrea sich besorgt.
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