Mein geliebter Ritter
Solange sie nicht betäubt war, konnte sie hoffen zu entkommen. Es war ein schwacher Hoffnungsschimmer, aber sie hielt daran fest.
Aus dem tiefen Dunkel an der Wand konnte sie den Kreis unbemerkt beobachten. In der Mitte standen zwei Tische, ein großer und ein kleiner. Der größere war wie damals mit einem schwarzen Tuch bedeckt – bloß dass dieses Mal, Gott sei Dank, keine nackte Frau darauf lag. Auf dem zweiten Tisch stieg Dampf aus einem Topf auf, der über einem kleinen Kohlebecken hing.
Linnet atmete scharf ein, als eine hochgewachsene Gestalt den Kreis betrat. Der Wolfsmann.
Sie grub ihre Fingernägel in die Handteller, als der Wolfsmann ein zappelndes Kaninchen in der einen und ein Messer mit schwarzem Griff in der anderen Hand hoch in die Luft hob. Mit einer raschen Bewegung des Arms schnitt er dem Tier den Kopf ab.
Maria, Muttergottes, stehe mir bei. Erschüttert wiederholte sie ihr Flehen, während der Wolfsmann den blutenden Kadaver benutzte, um ein Dreieck aus Blut auf den Boden zu malen. Seine Stimme erhob sich über die der anderen, als er dieses Ritual vollzog.
Ein Schauder durchlief sie. Sie kannte diese Stimme. Der Wolfsmann war Sir Guy Pomeroy.
Pomeroy nahm ein Messer mit weißem Griff vom Tisch und schnitt irgendwelche Kräuter in das kochende Gebräu im Topf. Während er arbeitete, umtanzten die anderen ihn zuckend und singend im Kreis. Pomeroy hob den Topf mit langen Metallzangen und goss die Flüssigkeit in eine bunt bemalte hölzerne Schüssel. Dann ging er um den größeren Tisch herum und tröpfelte dabei Flüssigkeit aus der Schüssel auf den Boden.
Als er einen Kreis gezogen hatte, hob er die Schüssel hoch über seinen Kopf und drehte sich in alle vier Himmelsrichtungen, wobei er »Erde!«, »Luft!«, »Feuer!« und »Wasser!« ausrief. Dann goss er die restliche Flüssigkeit auf den Boden.
Es gab zwei Eingänge außerhalb des Kreises, jeweils an den Stirnseiten des Raums. Linnet hatte vor, zu einem davon zu gelangen und zu fliehen. Ihre Glieder fühlten sich schwerfällig an, was wohl an dem bitteren Trank lag, den ihr jemand eingeflößt hatte, wie sie sich jetzt erinnerte, aber sie war nicht gefesselt. Sie rollte sich auf den Bauch und schob sich langsam über den Boden.
Ihre Aufmerksamkeit wurde erneut in die Mitte des Kreises gezogen, als eine Frau sich zu Pomeroy gesellte. Linnet erinnerte sich an die Vogelmaske der Frau und an ihre schwarzen Locken. Das war die Frau, die beim letzten Mal nackt auf dem Tisch gelegen hatte – die Frau, die vor Linnets Augen mit dem Wolfsmann Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Gott habe Erbarmen, sie wollte das nicht noch einmal sehen.
Plötzlich wusste Linnet, wer die Frau war … Margery Jourdemayne, die Hexe von Eye.
Linnet versuchte, schneller zu kriechen. Dann stürzte Margery plötzlich ohne Vorwarnung zu Boden. Linnet erstarrte, als es im Raum mucksmäuschenstill wurde und alle Tanzenden stehen blieben, um Margery zu beobachten.
Pomeroy hob die Arme. Mit einer tiefen Stimme, die von den Wänden des höhlenartigen Raumes widerhallte, rief er aus: »Conjuro te!«
Margery zappelte auf dem Boden herum und stieß merkwürdige Laute aus. Dann wurde sie still. Langsam hob sie den Kopf. Mit einer Stimme, die eher einem Tierknurren glich als der eines Menschen, sagte sie: »Adsum!«
Linnet konnte gerade genug Latein, um zu wissen, dass das ›Ich bin da‹ hieß. Doch wer war da? Sie ignorierte den Schauder, der ihr über den Rücken kroch, und konzentrierte sich darauf, an der Gruppe vorbeizukrabbeln, während deren Aufmerksamkeit sich auf Margery richtete.
»Welches Schicksal erwartet den Bischof mit dem befleckten königlichen Blut?«, rief Pomeroy.
Warum fragte er nach Bischof Beaufort? Und wen fragte er überhaupt? Dann wurde ihr klar, dass die Hexen die Geister der Verstorbenen riefen.
»Der Bastard Johann von Gents wird den roten Kardinalshut tragen«, krächzte Margery mit ihrer Tierstimme, »und als alter Mann sterben.«
Linnet konnte nicht abwarten, dass sie noch mehr zu hören bekam, sei es von den Lebenden oder den Toten. Sie kroch weiter, den Bauch dicht am Boden haltend.
Pomeroys Stimme erklang über ihr. »Was ist mit dem Kindkönig? Welches Schicksal erwartet ihn?«
Linnet hielt wie erstarrt inne und hielt den Atem an. Den Toten diese Frage zu stellen, war nicht nur Ketzerei, sondern Hochverrat.
»Er wird verrückt werden und zweimal König sein«, sagte Margery langsam und rau. »Er wird durch ein Kissen auf dem
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