Mein geliebter Ritter
Flandern reichten. Das Haus ihres Großvaters war Mychells Belohnung für die Rolle gewesen, die er bei dem Ganzen gespielt hatte. Sie sollte triumphieren, dass sie ihn jetzt hinauswarf.
Aber das tat sie nicht.
Mychell hatte nicht gewusst, wer ihn in die Überschuldung getrieben hatte, bis sie sich gestern getroffen hatten, um einen Vertrag zu unterzeichnen. Sie schluckte die Galle hinunter, die ihr bei der Erinnerung an ihr Treffen mit dieser Ratte mit den fettigen Haaren in die Kehle gestiegen war.
»Wenn Ihr mir nur ein wenig mehr Zeit gewähren würdet«, hatte er gesagt, während ihm Schweißtropfen von der Stirn rannen, »wäre ich in der Lage, Euch zu bezahlen.«
»Zeit wird Euch nicht helfen.« Sie beugte sich über den Tisch und schlug mit der Faust darauf. »Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?«
Bestürzt lehnte sich Mychell auf seinem Stuhl zurück und starrte sie an. Sie wusste genau, wann er sie erkannte, denn plötzlich riss er überrascht die Augen auf – aber ohne auch nur eine Spur von Scham.
»Soll ich Euch so viel übrig lassen, wie Ihr zwei Waisenkindern gelassen habt?«, fragte sie ihn.
»Es ist nicht meine Schuld, dass Euer Großvater als armer Mann gestorben ist«, protestierte er.
Aber sie wusste es besser. Sie hatte eine besondere Begabung, wenn es um Zahlen ging. Sie hatte Jahre gebraucht, um alles wie ein Mosaik zusammenzufügen, aber inzwischen wusste sie genau, wann ihnen wie viel gestohlen worden war. Sie fingen damit an, Zahlungen zu reduzieren und zu behaupten, Bestellungen seien nicht vollständig angekommen. Das trieben sie über einen längeren Zeitraum. Der Todesstoß war, als sie die riesige jährliche Zahlung ihres Großvaters an die flandrischen Weber unterschlugen, was nicht nur der finanzielle Ruin war, sondern auch Beziehungen ruinierte, die er ein Leben lang aufgebaut hatte.
Selbst als zehnjähriges Kind war ihr aufgefallen, dass irgendetwas mit den Abrechnungen nicht stimmte. Als sie ihrem Großvater ihren Verdacht mitteilte, war er zu gutherzig gewesen, um zu glauben, dass seine Freunde ihn bestahlen. Ihre Diebereien wurden immer unverfrorener. Doch irgendwann war ihr Großvater viel zu verwirrt, als dass er die Machenschaften durchschauen konnte.
»Macht Euch nicht die Mühe, es abzustreiten«, spie sie Mychell entgegen. »Ich hörte, wie Ihr die Beute unter euch aufgeteilt habt. Ihr konntet nicht einmal damit warten, bis wir London verlassen hatten.«
Linnet schaute sich um. Es überraschte sie, dass sie auf dem kleinen Absatz am oberen Ende der Treppe stand. Wie lange war sie schon hier? Sie schüttelte den Kopf, um nicht länger an den elenden Mistkerl zu denken.
Rechts und links von ihr führten Türen in die beiden Zimmer, in denen François und sie geschlafen hatten. Sie drückte die rechte auf und duckte sich unter den niedrigen Türrahmen, als sie ihr altes Schlafzimmer betrat. Das schmale Kinderbett nahm noch immer den meisten Platz unter der Dachschräge ein. Wie oft hatte sie jenen Fensterladen geöffnet, um die Sterne zu betrachten, während sie sich Geschichten über Ritter und Prinzessinnen ausdachte? Damals hatte sie nie erwartet, jemals einer Prinzessin zu begegnen, geschweige denn, sich mit ihr anzufreunden.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Was war heute bloß mit ihr los? Sie war nicht hier heraufgekommen, um zu träumen, sondern um etwas zu suchen. Als sie in jener Nacht London in aller Eile verlassen hatte, hatte sie ihren wertvollsten Besitz vergessen.
Die Chancen standen schlecht, dass er noch dort war, wo sie ihn einst versteckte hatte, aber sie musste nachsehen. Sie ließ sich neben dem Bett auf die Knie nieder und ließ die Hand zwischen die Matratze und den Rost gleiten. Nichts. Der muffige Geruch des Strohs brachte sie zum Niesen, als sie die Hand tiefer hineingleiten ließ. Stöhnend schob sie ihren Arm bis zur Schulter hinein. Da war nichts.
Sie ließ sich auf alle viere nieder und steckte den Kopf unter das Bett. Es war zu dunkel, als dass sie irgendetwas erkennen konnte. Hustend richtete sie sich auf – und erstickte beinahe, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm.
Knarr.
Der schlanke Dolch, den sie immer im Ärmel trug, lag bereits in ihrer Hand, als sie den Kopf herumriss. Der Deckel der alten Truhe am Fußende des Bettes ging langsam auf, und ein Mädchen mit einem roten Lockenkopf zeigte sich.
»Bei allen Heiligen!«, stieß Linnet aus und schlug sich mit der Hand auf die Brust. »Du hast mich zu Tode
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