Mein geliebter Ritter
Endlich war sie angezogen, sodass sie diesen furchtbaren Raum verlassen konnte. Wegen Pomeroy und Jamie wäre er für immer in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Erinnerst du dich an Owain ap Tudor?«, fragte Jamie, als sie nebeneinander den schmalen Korridor hinabgingen. »Er war einer von König Heinrichs Knappen.«
Er sprach, als würde er beim Abendessen in einem Saal voller Menschen höflich Konversation betreiben. Als wäre er nicht noch vor zehn Minuten in ihr gewesen. Als wäre nichts Erderschütterndes zwischen ihnen geschehen.
Nun, sie konnte dieses Spiel genauso gut spielen wie er.
Sie konzentrierte sich darauf, ihre Atmung normal und ihre Stimme ruhig zu halten. »Du meinst den gut aussehenden Waliser mit dem Teufel in den Augen?«
»Ich nehme an«, sagte er gepresst. »Er nennt sich jetzt Owen Tudor. Er wird mit einem Empfehlungsschreiben zur Aufnahme in den Dienst der Königin auf Schloss Windsor zu uns stoßen.«
»Ich freue mich darauf, Owen zu sehen«, sagte sie und benutzte absichtlich seinen christlichen Namen. »Die Gesellschaft eines gut gelaunten Mannes voller Charme und Esprit wird enorm erfrischend sein.«
Als sie auf den Hauptkorridor traten, bot sich ihr endlich eine Möglichkeit, ihm zu entrinnen: François’ und Jamies junger Knappe kamen auf sie zu.
Aber sie würde sein Verhalten nicht einfach so hinnehmen. Nein, das würde sie nicht. Sie würde ihn nicht ohne ein Wort einfach gehen lassen, als wäre nichts passiert. Sie griff nach Jamies Arm und hielt ihn fest. Als er stehen blieb und sich zu ihr umdrehte, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige.
»Rühr mich nie wieder an und bereue es danach, Jamie Rayburn.« Sie war so wütend, dass sie buchstäblich rot sah. »Mach das nie wieder.«
Sie raffte ihre Röcke und ließ ihn stehen.
Sie blickte nicht zurück.
6
»Wartet hier«, trug Linnet ihrem Schreiber auf.
Es war nicht leicht gewesen, die Kräuterfrau zu finden. Master Woodley und sie hatten fast eine Stunde die Gassen Londons durchstreift.
Es gab keinen Grund, weshalb sie verbergen sollte, dass sie die Hilfe der alten Frau suchte. Viele Leute kamen zu ihr, um sich wie Linnets Großvater Kopfschmerzpulver oder eine Salbe für schmerzende Gelenke geben zu lassen. Trotzdem blickte Linnet die Gasse hinauf und hinunter, bevor sie durch die Tür des kleinen Ladens schritt.
Die Düsternis im Innern trug nicht dazu bei, ihr Unbehagen zu mindern. Als ihre Augen sich angepasst hatten, betrachtete sie die vielen Reihen winziger Fläschchen und Tiegel auf den Regalen, die eine Seite des Raums einnahmen. Sie trat näher heran, um sie besser zu sehen. Die Fläschchen waren mit Flüssigkeiten jeglicher Farbe gefüllt. Neugierig nahm sie eins herunter, das mit einer dicken Staubschicht bedeckt war. Offenbar eine nicht besonders populäre Medizin, doch wogegen? Sie schraubte den Korken ab, um daran zu riechen.
»Sei vorsichtig damit, du dummes Ding.«
Linnet zuckte zusammen, als die Stimme hinter ihr erklang, und drehte sich um. Die älteste Frau, die sie je gesehen hatte, schlurfte auf sie zu.
»Neugier kann so tödlich sein wie ein Schwert«, zischte die Frau, als sie ihre gichtigen Finger um Linnets Hand legte. »Diese Lotion ist gegen Warzen und verbrennt deine Hand wie siedendes Öl, wenn du sie verschüttest.«
Linnet steckte den Korken mit größter Sorgfalt wieder auf den Flaschenhals. »Es tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Herumschnüffeln? Unsinn, natürlich wolltest du das.«
Die Alte nahm Linnet das Fläschchen ab und stellte es zurück auf seinen Platz im Regal.
»Das tötet einen Mann, wenn man es ihm ins Ohr träufelt«, murmelte die alte Frau und nickte dann, als spreche sie mit sich selbst.
Linnet überdachte ihr Vorhaben. Angenommen, die Frau gab ihr die falschen Kräuter, und sie verliebte sich in einen Ziegenbock oder ihr wuchs ein zusätzlicher Finger? So etwas kam vor. Ihr Großvater hatte die Fähigkeiten dieser Frau zwar hoch gelobt, doch das war schon viele Jahre her.
»Ein Problem mit einem Mann führt dich hierher«, sagte die Alte.
Linnet atmete hastig ein. »Könnt Ihr hellsehen?« Das war bei Frauen, die sich mit Kräutern und Zauber auskannten, häufig der Fall.
»Was sonst führt eine junge, vor Gesundheit strotzende Frau zu mir?«, fragte die Alte. »Es ist immer ein Mann, der ihr diese oder jene Probleme macht. Aber ich will mich nicht beschweren. Wenn Männer sich so verhielten, wie sie sollten, hätte ich oft nichts zu essen.«
Linnet
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