Mein geliebter Ritter
schwankte, schwindelerregend nahmen Erinnerungen in ihrem Kopf Gestalt an. Sie und François, wie sie sich an den Händen haltend unter dem Bett versteckten. Der Streit der Männer. Außer ihren Füßen konnte sie nichts sehen, nur diese unverwechselbare Löwenpfote am Ende eines Gehstocks.
Wo sind seine Enkelkinder? Wo sind sie?
Die Reibeisenstimme hatte wütend und beharrlich geklungen. Bei jedem Wort stieß die silberne Pfote auf die Bodendielen. Bei der Erinnerung an das Geräusch krampfte sich ihr Magen zusammen, und ihre Handteller wurden schweißnass.
»Mylady, ist Euch nicht wohl?« Jemand hatte sie am Arm ergriffen und sprach sie an. Sie schüttelte die Hand ab.
Langsam hob sie den Blick von dem silbernen Endstück des Gehstocks, um den Mann anzusehen, der ihn hielt, den Mann, den sie seit so vielen Jahren suchte. Sie sah ein Aufblitzen grünen Brokatstoffes, doch dann verschob sich die Menge, und ihr war die Sicht versperrt.
»Lasst mich!« Sie schüttelte die Hand ab, die sich wieder auf ihren Arm gelegt hatte.
Das Herz hämmerte ihr in den Ohren, als sie auf ihren Feind losmarschierte. Mychell hatte sie angelogen, er hatte ihr einen falschen Namen genannt. Der Mann mit dem Stock war nicht tot. Er war hier auf Schloss Windsor. Mychell musste auch gelogen haben, als er behauptet hatte, der Mann sei bloß ein Mittelsmann, ein Lakai wie er selbst.
Ihr Feind hatte ihr den Rücken zugekehrt. Sie musterte den feinen Brokatstoff, der sich über einen breiten Rücken spannte, der Fett angesetzt hatte, und den aufwändigen Hut, dessen lange Spitze nach vorn über seine Schulter fiel.
Er unterhielt sich mit Gloucester und Eleanor … und Pomeroy. Doch sie bemerkte die anderen kaum; nicht einmal Pomeroy spielte eine Rolle. Sie hatte sich an jenem Tag, als sie sich unter dem Bett versteckt hatte, etwas geschworen. Endlich hatte sie ihren Feind gefunden. Zehn lange Jahre hatte sie gewartet. Jetzt gehörte er ihr.
Das Herz schlug ihr in den Ohren und übertönte sämtliche anderen Geräusche, als sie sich durch die Menge auf ihn zuschob. Ein Funke gesunden Menschenverstandes flackerte durch ihren benebelten Verstand: Nicht hier. Nicht hier im Saal in Anwesenheit all dieser Leute.
Aber sie musste sein Gesicht sehen. In einem großen Kreis arbeitete sie sich zur anderen Seite des Raumes durch, wo sie sich hinter einer Säule ihm gegenüber postierte. Sie schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen die Säule, während sie sich fasste. Trotz all ihrer Bemühungen, ihn zu finden, hatte ihr Feind sich ständig vor ihr versteckt. Jetzt endlich würde sie erfahren, wer er war.
Würde sie ihn erkennen? War er ein alter Freund ihres Großvaters, so wie die anderen alle?
Sie war jetzt im Vorteil. Sie durfte ihn nicht vorwarnen, indem sie ihm zeigte, dass sie wusste, wer er war. Und vor allem durfte sie nicht offenbaren, dass sie vorhatte, ihn zu zerstören.
Sie atmete tief ein und trat um den Pfeiler herum.
Wieder hatte sich die Gruppe bewegt, sodass Pomeroy ihr einmal mehr die Sicht versperrte. Alles, was sie von dem Mann sehen konnte, war dunkles Haar und eine feiste, rosige Wange. In ihrer Erinnerung hatte er die Stimme eines alten Mannes. Doch hier stand der Schurke, im besten Alter, und hatte noch Jahre vor sich, in denen er die Früchte seines unverdienten Wohlstandes genießen konnte.
Alle Vorsätze, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten und heimlich zu agieren, waren wie weggeblasen, als der Mann den Kopf in den Nacken legte und sein herzhaftes Gelächter sich über den Lärm der Menge erhob. Wie konnte er es wagen, sein Leben zu genießen, nachdem er ihren Großvater zerstört hatte? Wie konnte er es wagen, nachdem er sie und François ohne einen Penny zurückgelassen hatte?
Sie erinnerte sich an ihre Angst, beim Stehlen erwischt zu werden und eine Hand zu verlieren. Sie erinnerte sich, wie sich ihr Magen vor Hunger verkrampfte, wenn sie nicht genug stehlen konnten. Sie erinnerte sich an die englischen Soldaten, die sie und François in ihrem leeren Haus in Falaise in die Enge trieben. Sie erinnerte sich an die Lüsternheit im Blick der Soldaten, die sie nicht ganz verstand, die ihr dennoch übel vor Furcht werden ließ.
All das war als Folge der Taten dieses Mannes geschehen. Flammende Wut brannte in ihr auf, sie konnte es nicht ertragen, dass er noch einen Tag, ja einen Moment länger auf dieser Erde wandelte.
Während sie sich auf ihn zubewegte, tastete sie nach dem dünnen Dolch, den sie immer an der
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