Mein geliebter Ritter
Treppe hinunter eilig fort, als habe sie etwas Dringendes zu erledigen – was sie ja auch hatte.
Sie folgte dem langen Gewölbegang und fragte sich, wo sie Jamie finden konnte. Bei den vielen Gästen wären die Diener ständig im Weinkeller unterwegs, deshalb würde er den wohl kaum wählen. Ein Stück weiter stand die Tür zum Gewürzkeller einen Spalt breit offen. Das war merkwürdig. Weil Gewürze so kostbar waren wie Gold, war der Raum üblicherweise fest verschlossen.
Waren Hume und Margery dort gewesen? Der Gewürzkeller wäre eine Schatzkiste für eine Frau wie Margery. Nachdem sie sich kurz vergewissert hatte, dass niemand sie sah, schlüpfte Linnet durch die Tür.
Durchdringende Gerüche umgaben sie. Sie blieb stehen und atmete tief ein, um sie zu identifizieren. Rosmarin, Minze, Lavendel, Salbei, Zimt. Die starken, miteinander vermischten Düfte waren betäubend. Welches Gewürz hatte Margery gesucht? Minzeblätter gegen Kopfschmerzen? Senf für einen Wickel? Eine Pipette mit dem Tropfen irgendeiner Substanz lag auf dem langen Tisch. Linnet hielt die Nase daran und schnüffelte. Es roch stark und streng. Sie rieb mit dem Finger daran und leckte sich dann vorsichtig die Fingerspitze ab. Sofort wurde ihre Zungenspitze taub. Irgendein Analgetikum? Vater Hume schien noch zu jung zu sein, um an schmerzenden Gelenken zu leiden.
Sie kümmerte sich nicht weiter um die Kräuter, die von der Decke hingen, sondern fing an, die Reihen von Flaschen, Krügen und Tiegeln zu untersuchen. Ein kleines Gefäß mit einer trüben Flüssigkeit, das mit ein wenig Abstand zu den anderen am Ende eines Regals stand, fiel ihr ins Auge. Es sah aus, als wäre es absichtlich von den anderen getrennt, damit man es nicht verwechselte.
Sie fand einen kleinen Hocker unter dem Tisch und kletterte darauf, um sich das Gefäß genauer anzusehen. An dem dünnen Staubfilm konnte sie erkennen, dass es kürzlich bewegt worden sein musste. Sie holte das Gefäß vom Regal und roch daran – der gleiche starke, strenge Geruch wie an der Pipette. Vorsichtig stellte sie das Gefäß zurück.
Was konnte es sein? Vielleicht war es etwas für Eleanor, auch wenn es nicht gerade wahrscheinlich war, dass es sich dabei um die Zutat für einen Liebestrank handelte.
Sie zuckte zusammen, als die Tür zum Kräuterkeller aufschwang.
»Hier bist du.« Jamie schenkte ihr ein schelmisches Grinsen, als er die Tür hinter sich zustieß. »Ich habe die Schlagsahne dabei.«
Er stellte die Schüssel auf dem langen Tisch ab und schnüffelte, während sein Blick in dem kleinen Raum umherschweifte.
»Sind die Düfte hier drinnen nicht herrlich?«, fragte sie.
»Ich mag ein wenig Schärfe zu meiner Schlagsahne«, sagte Jamie, und seine Augen funkelten.
Er steckte einen Finger in die Schüssel und hielt ihr die Sahne an die Lippen. Sie leckte sie von seinem Finger und schloss genüsslich die Augen, als der köstliche Geschmack ihren Mund füllte. Als er sie in die Arme nahm und küsste, vermischte sich sein Geschmack mit dem süßen der Sahne. Betörende Gerüche stiegen ihr in die Nase, während er sie auf den Tisch legte.
Sie beschloss, dass sie ihm später von Margery, der offenen Tür und der geheimnisvollen Tinktur erzählen konnte …
23
Die Weihnachtsfeierlichkeiten waren fast vorüber, nach so vielen Tagen der Völlerei und des Trinkens war die Menge ausgelassen. Wegen der lärmenden Gespräche im großen Saal konnte Linnet kaum die Musik von Harfe, Flöte und Einhandtrommel hören.
Linnet erblickte Martin, der sich mit ein paar anderen Knappen unterhielt, und berührte seinen Arm, um ihn beiseitezuziehen.
Als er sich umdrehte, riss er die Augen auf.
»L-L-L-Lady Linnet.« Mit ein wenig Verzögerung verneigte er sich förmlich, wobei er einen Mann hinter ihm anrempelte. Der Mann beschimpfte ihn, doch Martin schien das nicht zu bemerken.
Linnet seufzte innerlich. Der Junge hätte sich inzwischen an sie gewöhnen können.
»Habt Ihr Sir James gesehen?«, fragte sie und ließ ihren Blick über die Menge schweifen.
»E-Er ist mit Thunder ausreiten gegangen.«
Jemand trat einen Schritt beiseite, und ein Aufleuchten von Silber knapp über dem Fußboden erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie stand stocksteif, unfähig zu atmen. In einer Lücke zwischen Beinkleidern von Männern und Röcken von Frauen glänzte das silberne Endstück eines Gehstockes hell auf dem schwarzen Boden. Ihr Blick verengte sich wie ein Tunnel, um diese silberne Pfote zu fixieren.
Linnet
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