Mein glaeserner Bauch
dem ich schließlich geradezu um Auskunft bettelte. Wie ich erfuhr, konnten in meinem Blut keine Antikörper gegen Ringelröteln nachgewiesen werden.
Diese Information verstieß zwar gegen die Regeln, denn eigentlich waren nur der Arzt oder die Ärztin berechtigt, mir die Ergebnisse mitzuteilen. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, die Ungewissheit das ganze Wochenende über aushalten zu müssen, und lockte schließlich den Laborbefund heraus.
Damit hatte sich die Hoffnung zerschlagen, dass die Ödeme durch eine Parvovirusinfektion hervorgerufen wurden und unser Kind mit Bluttransfusionen zu heilen war. Ich war entsetzt.
Aber selbst wenn Leon behindert sein sollte, dann kann ich doch jetzt nicht so tun, als sei er nicht mein Kind! Soll ich sein Leben infrage stellen, weil er vielleicht nicht gesund ist? Das ist unmenschlich, das kann ich nicht!
Es war heiß in der Stadt, darum hatten Freunde vorgeschlagen, dass wir das Wochenende bei ihnen auf dem Land verbringen. Ich folgte der Einladung, als sei dies ein möglicher Fluchtweg. Ohne zu wissen, warum. Erst als wir am Samstagmorgen die Außenbezirke der Stadt hinter uns gelassen hatten, fühlte ich mich etwas leichter. Hier könnte es gehen, sagte ich zu Klaus. Auf dem Land kann man auch mit einem behinderten Kind leben.
Die meisten kinderlosen Frauen leben in der Stadt. Das ist eine statistische Tatsache. 43 Ich war seit meinem Studium in Städten zu Haus, hatte schon als Schülerin oft das Gefühl, auf dem Dorf ginge das Leben an mir vorbei. Ländliche Idylle suchte ich normalerweise nur in der Freizeit. Zum Wandern oder unter südlicher Sonne im Urlaub. Jetzt sah ich die Welt hier mit anderen Augen.
Die Stadt war für mich der Ort, wo ich meinen Beruf ausübte, ein Ort mit komplexen Verhaltensmustern, mit Konkurrenz und dem Anspruch, optimal zu funktionieren. Das könnte ich mir und meinem Kind auf dem Land ersparen. Und dazu wäre ich dann auch nicht mehr fähig, wenn mein Kind mich mehr als andere, gesunde Kinder brauchte.
Jenseits der hektischen, oft überspannten Anforderungen der Großstadt könnten wir auf dem Land einfach nur sein. Leben, so wie Menschen schon immer gelebt haben, in Familien, wo die Alten und Kranken dazugehören, in denen jeder seinen Platz hat, und wo das einfache Leben manchmal auch das gute Leben ist. Klaus hörte mir zu, und ich spürte, er war traurig und skeptisch.
Es ist vielleicht schwer, aber nicht unmöglich, redete ich auf ihn ein. Ich habe erlebt, was Menschen leisten können. In meinem Elternhaus sind die Großeltern gepflegt worden, als es ans Sterben ging. Und die Ehebetten meiner Eltern wurden aus dem Schlafzimmer im ersten Stock heruntergeholt und im Wohnzimmer aufgebaut, als mein Vater aufgrund seiner Krebserkrankung zu schwach wurde, tagsüber das Bett zu verlassen. Als er im Sterben lag, hat meine Tante uns liebevoll bekocht und den Tisch immer wieder wie eine Festtagstafel gedeckt. Um uns auf ihre Weise zu unterstützen und zu stärken. Der Hausarzt wohnte in der Nachbarschaft und kam, wann immer wir ihn brauchten, während die Familie sich bei den Nachtwachen abwechselte. Bis mein Vater starb.
Ich versuchte, Klaus von meinen Überlegungen zu überzeugen und mir gleichzeitig mit meinen Erinnerungen Mut zu machen. Manche Menschen können sich so etwas vielleicht nicht vorstellen. Haben den Tod, und so lange wie möglich auch jeden Gedanken an Krankheit, aus ihrem Leben verbannt. Und zeigen nicht viel Einfühlungsvermögen, wenn andere davon betroffen sind. »Trägst du immer noch schwarz?«, hatte mich drei Tage nach der Beisetzung meines Vaters ein Kollege gefragt, als ich wieder am Arbeitsplatz erschien. Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt.
Zum ersten Mal seit dem verhängnisvollen Ultraschall glaubte ich jetzt, einen möglichen Ausweg zu erkennen. Ich würde meinen Beruf aufgeben und mein Leben ändern. Es war Sommeranfang, der längste Tag, die kürzeste Nacht des Jahres. Stundenlang blickte ich vom Liegestuhl aus auf den Bach, der durch das Grundstück der Freunde plätscherte. Klaus saß schweigend neben mir.
Ich steckte tief in der größten Krise meines Lebens und suchte nach einer Lösung. Meine Gefühle waren inzwischen auf einer Spur, die nicht ganz abwegig schien.
In einer empirischen Studie zum Thema Pränataldiagnostik und Angst vor einem behinderten Kind stellte Monika Willenbrink 1999 fest, dass viele Frauen und Paare die Vorstellung haben, mit einem behinderten Kind völlig
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