Mein glaeserner Bauch
Familien mit besonderem genetischem Risiko war ein Standardangebot an alle Frauen im Rahmen der allgemeinen Schwangerenvorsorge geworden. In den allermeisten Fällen wurde die Untersuchung auf Empfehlung von Ärzten und Ärztinnen durchgeführt. Aus Sicht der Mediziner ist das vielleicht sogar verständlich. Denn die Beweislast dafür, ob eine Frau sich nach umfassender Beratung für Pränataldiagnostik und einen möglichen Abbruch der Schwangerschaft entschieden hätte, liegt nach gängiger Rechtsprechung beim Arzt.
Wenn schwangere Frauen nicht über die Möglichkeiten zur Früherkennung von Schädigungen aufgeklärt werden, so kann dies einen rechtlichen Anspruch der Eltern auf Ersatz von Unterhaltsaufwendungen begründen. Die Kenntnis einer Missbildung des Kindes hätte ja gegebenenfalls den Wunsch der Mutter auf einen Abbruch gerechtfertigt.
Schon die Störung der Lebensplanung von Eltern, die bei richtiger Aufklärung eine Abtreibung gewollt hätten, kann vor Gericht zu Klagen auf Schadensersatz gegen den Arzt führen. Der Arzt hat dann möglicherweise den gesamten Unterhaltsbedarf für das mit körperlichen oder geistigen Behinderungen geborene Kind zu ersetzen. Schadensersatz, um den Eltern zumindest die finanzielle Belastung abzunehmen. Durch ein Kind, das deshalb unerwünscht ist, weil es nicht gesund ist.
Schon in den achtziger Jahren wurden vor bundesdeutschen Gerichten Schadensersatzprozesse wegen unerwünschter oder nicht verhinderter behinderter Kinder angestrengt. Deshalb ist es, wie der Rechtsanwalt Oliver Tolmein feststellt, auch kein Ausrutscher eines Arztes, das Leben mit Behinderung möglichst furchterregend und als unerträgliche Belastung zu schildern.
Nach rechtskräftigem Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf von 1989, das einen Arzt zu Schadensersatz verurteilte, müssen Ärzte unmissverständlich klarmachen, »dass das Risiko auch die Entwicklung eines schwerstgeschädigten Kindes beinhalte und dass die Geburt eines so geschädigten Kindes erfahrungsgemäß zu unerträglichen und furchtbaren Belastungen führe, vielfach verbunden mit der Notwendigkeit lebenslanger Pflege und Betreuung des genetisch beschädigten Menschen. Diese Auswirkungen sind dem medizinischen Laien regelmäßig nicht bekannt, auch wenn er den Begriff ›Mongolismus‹ mit einer Schädigung der Leibesfrucht in Verbindung bringt. Der Arzt verstößt deshalb gegen seine vertragliche Beratungspflicht, wenn er die Unterrichtung der Patientin in Bezug auf das eigentliche Risiko auf die Mitteilung der schlagwortartigen Begriffe ›Mongolismus‹ oder ›mongoloides Kind‹ reduziert.« 39
»Mongolismus« oder »mongoloides Kind« sind veraltete Bezeichnungen für das Down-Syndrom, die schon seit den sechziger Jahren als diskriminierend und beleidigend gelten. Es mag erstaunen, dass ein Arzt einer Patientin in den achtziger Jahren mit diesen Begriffen überhaupt noch etwas klarmachen will.
Doch eine solche Rechtslage bewirkt natürlich, dass die Angst vor Haftung viele Ärzte immer wieder dazu verleitet, Schwangere übertrieben zu verunsichern und großzügige Abbruchsempfehlungen auszusprechen. Was dann paradoxerweise als Ausdruck ärztlicher Sorgfaltspflicht interpretiert wird. Bei strenger juristischer Bewertung dürfte dieses Verhalten aber wahrscheinlich auch nicht ganz unproblematisch sein.
Der Gynäkologe wollte sich also rechtlich absichern. Doch in meiner Verfassung war ich nicht in der Lage, mich mit den Motiven des Arztes auseinanderzusetzen oder sie überhaupt zu durchschauen. Ich fühlte mich bedrängt. Hatte den Eindruck, ich sollte gegen meinen Wunsch einer Chorionzottenentnahme zustimmen.
Eine Flut von Gefühlen und Gedanken raste durch meinen Kopf. Warum kann der Arzt nicht verstehen, dass ich ihn nicht in meinen Bauch stechen lassen möchte? Er könnte mein Kind verletzen, es kommt doch auch zu Fehlgeburten bei diesen Untersuchungen! Ich will nicht, dass meinem Kind etwas passiert! Und selbst wenn Leon vielleicht nicht ganz gesund ist, warum sollte ich sein Leben riskieren?
Man weiß im Einzelnen nicht immer so genau, warum, und man weiß nie, wen es treffen wird, aber bis zu drei von hundert Frauen haben nach invasiver Diagnostik eine Fehlgeburt. Für die Chorionzottenbiopsie spricht der ehemalige Direktor der Universitätsfrauenklinik München-Großhadern Hermann Hepp sogar von zwei bis vier Prozent. 40 Im Klartext: Gesunde Kinder sterben, um die behinderten herauszufiltern. Und gelten
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