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Mein glaeserner Bauch

Mein glaeserner Bauch

Titel: Mein glaeserner Bauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Hey
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. Denn wer wolle sich schon dem Vorwurf aussetzen, er sei verantwortlich für das Leid anderer? 71
    Ob Leid für würdig befunden wird, behoben oder abgemildert zu werden, hängt jedoch ab von den jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Werten und Normen, schreibt die Wissenschaftlerin. So werde in unserer Gesellschaft, unter den herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen, individuelles Leid vor allem dann wahrgenommen, wenn es marktfähig ist.
    Es ist vielleicht nur ein interessanter Zufall, dass die massive Verbreitung von Pränataldiagnostik zeitlich zusammenfällt mit der Krise des Wohlfahrtsstaates und der erfolgreichen Umsetzung neoliberaler politischer Programme. Zur raschen Entwicklung der Genforschung tragen in den achtziger und neunziger Jahren rasante wissenschaftlich-technologische Neuerungen bei, aber auch die massive finanzielle Förderung von humangenetischer Forschung. Zugleich werden seit dieser Zeit soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit und Berufsunfähigkeit zunehmend privatisiert, wobei jeder Einzelne aufgefordert ist, ein vorausschauendes Risikomanagement zu betreiben. Dazu gehört natürlich, durch entsprechende private Versicherungen vorzusorgen.
    Zur Ursache von sozialen Problemen wird seit diesem Perspektivwechsel immer häufiger individuelles Versagen erklärt. Wirtschaftliche Bedingungen werden andererseits als naturgegeben hingenommen. Krankheiten oder geringeres Leistungsvermögen gelten diesem Weltbild entsprechend nicht mehr als schicksalhaft, sondern fallen zunehmend in die individuelle Verantwortung. Die Konsequenz ist, dass die Folgen immer weniger solidarisch getragen und stattdessen zu einer moralischen Frage von persönlicher Schuld umgedeutet werden.
    Schon seit Mitte der siebziger Jahre verlagert sich das wissenschaftliche und medizinische Interesse deutlich. Immer mehr aus dem Blick geraten Umweltgefahren wie Industriegifte und Schadstoffe oder auch soziale Bedingungen wie Stress, krank machende Arbeits- und Wohnverhältnisse. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf individuelle Lebensstile, die für die meisten der weitverbreiteten Krankheiten verantwortlichen sein sollen. Tabak, Alkohol, mangelnde Bewegung und falsche Ernährung rücken in den Mittelpunkt medizinischen Interesses, später kommen genetische Faktoren hinzu. 72 Welche Zwänge dieser vorherrschende Gesundheitsdiskurs produziert, wird gerne ausgeblendet.
    Der darin enthaltene Widerspruch wird gerade am Thema Gesundheit von Kleinkindern deutlich. Wenn die Kinder erst auf der Welt sind und die pränatale Rasterfahndung erfolgreich hinter sich gebracht haben, kann es durchaus geschehen, dass wirtschaftliche Interessen höher bewertet werden als die Gesundheit der Kinder. Die Gefährdung von Kleinkindern durch Spielzeug, das krebserregende Chemikalien enthält, ist schon lange bekannt. Dabei geht es nicht nur um Spielzeug aus Plastik, sondern auch aus Holz. Selbst Stofftiere sind belastet. 73 Das Problem wird immer wieder einmal thematisiert, aber es ändert sich wenig.
    Der Leiter des Instituts für Umweltchemie an der Universität Lüneburg, Klaus Kümmerer, drückt die Schadstoffbelastung ganz plastisch aus: Eine Stunde Mundkontakt mit solchem Spielzeug entspricht Werten, als würde das Kind vierzig Zigaretten am Tag rauchen. 74 Und da Kleinkinder ihre Welt vor allem mit dem Mund erkunden, ist eine Stunde lutschen und knabbern sicher nicht unrealistisch.
    Die Grenzwerte für Giftstoffe in Spielzeug sind wissenschaftlich nachgewiesen viel zu hoch. Giftstoffe, die nicht nur als krebserregend gelten, sondern sogar das Erbgut verändern und die Fortpflanzung gefährden können.
    Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung kritisiert, dass Kinder unzureichend vor gesundheitsschädlichen Chemikalien in Spielzeug geschützt sind. 75 Im Blut und Urin von Kindern werden solche Gifte immer wieder in viel zu hoher Konzentration nachgewiesen. Und die Krebsrate bei Kindern ist deutlich gestiegen. Mögliche weitere Folgen werden sich erst später zeigen, sagen Experten. Bei Kindern, die einmal gesund zur Welt kamen.
    »Welches sind die verschiedenen nicht-genetischen Quellen von Krankheiten und Behinderungen in unserer Gesellschaft, und was tun wir, um ihnen entgegenzuwirken«, fragt auch die Harvard-Biologin Ruth Hubbard. Und sie fährt fort: »Tatsache ist, dass nur eine Minorität der Behinderungen angeboren ist. Die meisten sind das Ergebnis von Unfällen – auf der Straße, bei der Arbeit, zuhause. Wir

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