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Mein glaeserner Bauch

Mein glaeserner Bauch

Titel: Mein glaeserner Bauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Hey
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überlebensfähig.
    Deshalb wird oft zur Vorbeugung ein lebensfähiges, aber behindertes Kind vor der Abtreibung mit einer Spritze ins Herz getötet. Diese Maßnahme ist rechtlich bis zum Einsetzen von Eröffnungswehen erlaubt, da erst mit Beginn des Geburtsvorgangs das Ungeborene juristisch als Mensch gilt. Der Einsatz der Spritze wäre danach ein Tötungsdelikt, das strafrechtlich verfolgt wird.
    Von bis zu achthundert Abtreibungen überlebensfähiger Ungeborener pro Jahr schrieb die Zeitung Die Welt in einem Artikel aus dem Jahr 2000. Das Statistische Bundesamt gibt für das Jahr 2011 eine Gesamtzahl von neunhundertzweiundachtzig Schwangerschaftsabbrüchen nach der neunzehnten Schwangerschaftswoche an, davon vierhundertachtzig ab der zweiundzwanzigsten Woche. 68
    Nur mit dem Fetozid könne verhindert werden, dass ein überlebensfähiges Kind zur Welt komme, wird der Direktor der Frauenklinik Köln, Peter Mallmann, in dem genannten Artikel zitiert. Und weiter: »Der Arbeitsauftrag an uns Ärzte lautet, die Eltern vor der Last des behinderten Kindes zu bewahren.« 69

    Ich empfand mich selbst als Zumutung in meiner Zerrissenheit, wollte am liebsten weglaufen und wusste nicht, wohin. Warum nur hatte ich mich der Klinik ausgeliefert? Mehr und mehr fühlte ich mich wie eine schäbige Komplizin bei einem Kapitalverbrechen.
    Mein Bruder kam mich besuchen, er war der Einzige, außer Klaus, der sich in diesen Tagen in meine Nähe traute. Vielleicht war er sogar der Einzige, den ich zuließ. Denn er hatte dafür gesorgt, dass ich Klaus, den Vater meines Kindes, nicht ausschloss. Hatte mir klargemacht, dass Klaus auch in dieser schweren Zeit zu mir und Leon dazugehörte. Mein Bruder war selbst Vater. Und er zeigte Mitgefühl.
    Es war der fünfte Tag in der Klinik. Ein Tag ohne Wehen fördernde Medikamente. Mein Körper sollte zur Ruhe kommen. Nach Tabletten, Gel und Infusion. Mit Klaus und meinem Bruder machte ich einen Spaziergang in der Nähe der Klinik und ließ mich von ihnen durch die mir fremd gewordene Welt begleiten.
    Am nächsten Tag starrte ich wieder wie in Trance auf den kleinen transparenten Plastikzylinder, die Tropfkammer des Infusionsgerätes. Sah dort Tropfen für Tropfen des Giftes fallen. Langsam und stetig sickerte es aus dem Infusionsbeutel, durch den Schlauch, in die Kanüle, in meinen Körper. Ich starrte auf die Tropfen, konnte sie zählen, nutzlos wie das Mitzählen von Sekunden beim Ticken einer Uhr. Ich hätte sie sogar anhalten können. Am Plastikrädchen, mit dem die Krankenschwester die Durchlaufgeschwindigkeit regulierte. Anhalten. Wie das Pendel einer Standuhr. Aber nichts mehr war wirklich aufzuhalten. Nicht die Zeit. Nicht unser Leid.
    Jede Nalador-Behandlung zur Einleitung des Aborts ist mit dem Abbruch der Schwangerschaft zu beenden, da eine Schädigung des Fetus wahrscheinlich ist. 70
    Ich starrte auf die Tropfen, wie in der Sterbephase meines Vaters, als ein Infusionsgerät ihn mit Flüssigkeit versorgte, weil er nicht mehr essen und nicht mehr trinken konnte, grauenvoll ausgezehrt vom Krebs, der in ihm wütete.
    Was würde mein Vater sagen, wenn er noch lebte? Du musst deine Gefühle noch besser in den Griff bekommen, wie früher, wenn ich als Jugendliche zornig tobte? Oder: Jedes Menschenleben ist kostbar, wie damals, als ich altklug über die enormen Kosten eines Fahrradwegs schwadronierte, der entlang der Hauptstraße durchs Dorf gebaut werden sollte? Was würde er sagen? Ich starrte auf die Tropfen in der Tropfkammer des Infusionsgeräts neben meinem Bett und fühlte mich unendlich verloren auf der Welt.
    Als meine Mutter mich anrief, war der Tropf immer noch nicht durchgelaufen. Sie wirkte verstört und erzählte mir, wer schon alles das gleiche Schicksal erlitten habe wie Klaus und ich. Einerseits war es mir nicht recht, dass sie offensichtlich mit anderen Menschen über unsere Situation, über dieses Tabu sprach. Andererseits konnte ich verstehen, dass sie es allein nicht aushielt.

    Leid verhindern – das ist es, was im Kontext biopolitischer Diskurse immer wieder als zentrale Begründung herangezogen wird sowohl für pränatale Diagnostik als auch für Präimplantationsdiagnostik. Diejenigen Maßnahmen, die auf die Verringerung von Leid abzielen oder zumindest einigermaßen überzeugend auf diese Zielsetzung verweisen, können sich ihrer Durchsetzung fast sicher sein, schreibt die Sozialwissenschaftlerin Anne Waldschmidt über Pränataldiagnostik im gesellschaftlichen Kontext

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