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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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»Freischütz«, seine »Schinderhütte« betreibt. Jünger kam gerne nach Paris, das wussten wir alle, denn in Frankreich galt er als der große Schriftsteller aus Deutschland. Seine Kälte und klassizistische Emotionslosigkeit, die Nähe zur chirurgischen Vorgehensweise Benns ließen sich hier besser einordnen als in Deutschland. Julien Gracq und viele andere, auch der Robbe-Grillet von »L’année dernière à Marienbad« verstanden und vergötterten die ziselierte Sprache und die Künstlichkeit des gefallenen Engels. Bei Max Ernst fand ich in Seillans huldigende Briefe, die aus Wilflingen kamen. Und in einem Brief, den mir Jünger 1991 schrieb und in dem er sich für die Übersendung des Katalogs zur Zentenarausstellung bedankte, notierte er: »Bei diesem Studium bedauere ich wieder, dass ich den 80. Geburtstag von Ernst trotz seiner freundlichen Einladung wie so manche wichtige Begegnung versäumt habe. Aber es ging mir schon damals wie heut.« Bücher wie Subtile Jagden , die eine Leidenschaft schildern, die für die meisten unterhalb der Reizschwelle bleibt, beschäftigten Max Ernst und beeinflussten ihn beim Gebrauch seines reichen Bestiariums. Vor allem in den Collageromanen dient eine Armee von Kerbtieren zur Verdeutlichung psychischer Zustände. Max Ernst entnahm die feingezeichneten Risse von Gottesanbeterinnen, Cicindelen oder Kanthariden naturwissenschaftlichen Traktaten, die vorwiegend dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert entstammen. Zu seinen naturkundlichen Lektüren gehörten ebenso Jean-Henry Fabres Souvenirs entomologiques ( Erinnerungen eines Insektenforschers ) wie Denis Saurats La religion des géants et la civilisation des insectes . Die Interpretation, die Saurat in diesem Buch wie auch in dem drei Jahre zuvor, nämlich 1954 , publizierten L’Atlantide et le règne des géants ( Atlantis und die Herrschaft der Riesen ) vom Entstehen der Monumentalskulpturen auf den Osterinseln und von den Bauten und Skulpturen Tiahuanacos in der Hochebene von Altiplano gibt, passen in die Vorstellungswelt des Surrealismus. Bereits in den Bildern der dreißiger Jahre hatte Max Ernsts Auseinandersetzung mit Platons Atlantisbericht aus dem Timaios einen Höhepunkt erlebt. Die Bilderserie »Ganze Stadt«, die vom Dschungel angefressene und von riesigen Insekten kolonisierte Tempel zeigt, handelt von einem Dasein, das fern von jedem Kreationismus ein von Kataklysmus zu Kataklysmus springendes Dasein präsentiert. Das passt zu einem Werk, in dem sich wie in kaum einem anderen das Bedauern zeigt, nicht glauben zu können. Dies bekannte mir Max Ernst eines Abends in Seillans, auf für mich unendlich bedrückende und zugleich unendlich tröstende Weise. Wir saßen allein in der Küche. Dorothea war in Paris geblieben, und Max hatte für uns beide gekocht. Ich wollte ihm sagen, wie schön es sei, dass wir uns gefunden hatten, und hinzufügen, wie traurig es mich gleichzeitig stimme, dass dies so spät erfolgt sei. Er schnitt mir das Wort ab und sagte, er wisse, was ich meine, er sei bereits ein alter Mann. Doch sofort fügte er hinzu: »Das ist doch völlig gleichgültig. Wichtig ist, dass wir uns getroffen haben und heute Freunde sind.« Ohne darüber nachzudenken, stellte ich die Frage nach Gott. Er war der Meinung, niemand habe das Recht, den Glauben durch eine personifizierte Gottheit abzuschwächen. Er selbst müsse unentwegt an das Auge denken, und er beschrieb mir sein Schwindelgefühl, das daher rührt, dass jede Kreatur zweifelsfrei sehe. Die Pflanzen, die Tiere, der Mensch, alle könnten sehen, und selbst in fünftausend Metern unter der Meeresoberfläche gebe es noch Kreaturen, die sich einer Lichtspur zuwenden. Und er fügte dem den von mir unvergessenen Satz hinzu: »Wenn ich an all das denke, dann finde ich es doch schade, dass es keinen Gott gibt.« Vielleicht bezog er sich damit auf Darwins Äußerung: »Der Gedanke an das Auge lässt mich am ganzen Körper erschauern.« Ich zumindest dachte auch an Becketts Drehbuch für »Film«, in dem Buster Keaton alle Augen zu verdecken sucht. Es ist dies ein vergebliches Unterfangen, über das der Autor notiert: »Wenn alle Wahrnehmung anderer, tierische, menschliche und göttliche, aufgehoben ist, behält einen die Selbstwahrnehmung im Sein. Die Suche nach dem Nichtsein durch Flucht vor der Wahrnehmung anderer, scheitert an der Unausbleiblichkeit der Selbstwahrnehmung.« Der Glaube an das Sehen war etwas, was mich plagte. Er überschnitt sich mit so vielem,

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