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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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was mir im Umgang mit Kunst aufgefallen war. Anfangs hatte ich noch gedacht, dass der Hinweis auf Epiphanie, den ich regelmäßig in den Biographien des Kreises um Breton fand, nicht mehr als ein Vorwand sei, um die eigene Position herauszuheben. Doch bald erkannte ich bei Max Ernst, dass die Plötzlichkeit wie ein säkularer Gnadenakt unausweichlich dazu führt, den Satz vom Grunde in Frage zu stellen. Diese Form der Erleuchtung war auf die Überhöhung des Augenblicks angewiesen, in dem es gelang, alles Vorwissen wenigstens für kurze Zeit wie Ballast abzuwerfen. Heraklit, Heidegger und vor allem ein Satz aus Hegels Phänomenologie des Geistes umschrieben die so schwindelerregende, ausweglose Nähe zum Moment, aus der der Surrealismus seine Energie bezog: »Es wird das Jetzt gezeigt, dieses Jetzt. Jetzt: es hat schon aufgehört zu sein, indem es gezeigt wird; das Jetzt, das ist, ist ein anderes als das gezeigte, und wir sehen, dass das Jetzt ebendieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu sein.« Das Wort »Plötzlichkeit«, das ich 1974 in dem Buch Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch als grundlegenden Begriff für die Produktion der Collage einführte, kommentierte mein Freund Karl Heinz Bohrer nach Übersendung des Buches: »Ich sehe jetzt, dass Du sehr ähnliche Fragen an die Kunst und Literatur stellst wie ich.« Sein Brief bezog sich auf mein Kapitel »Die Kategorie des ›Plötzlichen‹, der ›révélation‹, der ›Epiphanie‹«. In ihm berichte ich von Max Ernsts Erweckungserlebnis, das mich zutiefst beeindruckte – einem »moment privilégié«, einem Schock. Nichts beeindruckte mich von nun an tiefer als solch präzis lokalisierbare Situationen, die allen vorhergehenden Umgang mit Leben und Kunst über den Haufen werfen. Ich selbst erlebte eine solche Situation bei der Besichtigung des deutschen Pavillons in Venedig, wo ich erstmals Baselitz und Kiefer erlebte. Ich empfand ihre Kunst als »Überdosis an Teutschem«, die mich anwiderte. Erst später war ich dazu in der Lage, in diesen Arbeiten ein Aufbegehren gegen den Versuch zu sehen, die Nachkriegsgeschichte wie einen knurrenden Hund stillhalten zu wollen. Über Kiefer habe ich wiederholt geschrieben, und ich schätze mich glücklich, die Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche gehalten zu haben, in der ich mein eigenes Revirement nicht verschwiegen habe. Baselitz’ verkehrte Welt wiederum erschien mir ab einem bestimmten Moment plötzlich als eine großartige Parabel für einen Satz, der mich in Georg Büchners Lenz getroffen hatte. Der Dichter lässt seinen Protagonisten »am 20. Jänner durchs Gebirg« gehen. Und es kam mir vor, als ob die Bilder, die Baselitz in den sechziger Jahren gemalt hat, ebendiesen Text umkreisten: »Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.« Und dann kommt der entscheidende Augenblick, wo Lenz in seiner Auflehnung das Gewohnheitsmäßige des Lebens und Erlebens nicht mehr ertragen kann: »Müdigkeit spürte er keine, nur war ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« Dieser Satz, der den ganzen Widerwillen gegen das bereits Gelebte zum Ausdruck bringt, könnte von Baselitz stammen. Denn das wurzellose, flottierende Dasein in seiner Malerei, einer Geschichtsmalerei, ist ein indirektes Manifest für den Umsturz in den Bildern. Der Künstler stülpt die Malerei um.
    Es wurde mir klar, dass die Kunstgeschichte und die Avantgarde mit einer Vorstellung von Evolution operierte, die angesichts ihrer Trippelschritte jede Spannung zu Staub zerfallen lässt. Und bis heute berührt mich zugleich sehr, was Henning Ritter in einem Aufsatz über Hans Blumenberg geschrieben hat: »Die Evolutionstheorie lässt den Gedanken der Bewahrung nicht zu.« Doch kehren wir wenigstens metaphorisch zum Begriff der »Schöpfung« zurück. Sie umgibt etwas Abruptes und Jähes – und das allein hat mich letztlich immer herausgefordert. Ich entdeckte es bei Joyce in Stephen Hero , bei de Chirico und nicht zuletzt in Bretons Nadja . Sie taucht zu dem Zeitpunkt in Bretons Leben auf, da dieses auf eine absolute Disponibilität eingestellt zu sein scheint. Es ist eine Stimmung, die keiner genauer beschrieben hat als Aragon, der über seine eigenen unerklärlichen Begegnungen schreibt: »Es war an einem Spätnachmittag, gegen fünf, Samstag: Mit einem Schlag trifft es ein, jedes Ding schwimmt in einem anderen Licht, und gleichwohl, es ist immer noch ziemlich

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