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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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kalt, könnte man nicht beschreiben, was sich eben ereignet hat … Ich bin nicht weiter Herr meiner selbst, so stark spüre ich meine Freiheit.« Nach der Lektüre der Endzeitbilder Max Ernsts kann man an das erinnern, was Lévi-Strauss, der zu den Bewunderern und Freunden Max Ernsts zählte, als Bilanz seines eigenen Forschens und Denkens sah und was er in diesen Bildern wiederfand: »Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, im Verhältnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser Schöpfung zu spielen.« Nachdem ich anlässlich des Meister-Eckhart-Preises, der Lévi-Strauss in Paris verliehen wurde, die Laudatio auf ihn halten durfte, in der ich nicht zuletzt diesen eindrucksvollen Satz zitierte, widmete er mir ein Foto aus den dreißiger Jahren, das ihn zu Pferd zusammen mit seiner ersten Frau Dina im Regenwald zeigt. Klein, wie eine Figurine aus Altdorfers »Alexanderschlacht«, sieht man ihn in der Ferne, fast aufgesogen von einer alles dominierenden Vegetation. Die Aufnahme lässt an die romantischen Naturschilderungen Chateaubriands denken. Nicht umsonst hat mich Lévi-Strauss in Gesprächen bei sich zu Hause, in der Rue des Marronniers, die der Vorbereitung meiner Laudatio dienten, auf seine große Liebe zum Autor des Atala hingewiesen. Hier und in René tauchte erstmals der »mal du siècle« auf, die tiefe Schwermut, die in seinen Arbeiten erscheint. Aus der Sicht der Überlebenden, also aus der Perspektive des Verlusts, werden in Lévi-Strauss’ ethnologischen Schriften die Kosmogonie und die Geschichte erlebt. Auch Max Ernst besaß diese folgenschwere Sensibilität für Zeitsprünge und Gleichzeitigkeiten. Die Beschäftigung mit der Geologie verhalf dazu. Hinter der Beschreibung und Lektüre des Profils einer Landschaft, Lektüre, die mit einem Schlag, in einem »travelling mental« Hunderttausende Jahre einbezieht, eröffnet sich modellhaft die Vorstellung von dem, was dem ganzen Denken seinen, ließe sich sagen, agnostischen Heroismus zuweist. Die Präsenz eines definitiven Verlusts menschlichen Lebens und menschlicher Spur rührt bei Lévi-Strauss sicher auch daher, dass die Feldforschung den Ethnologen bei den südamerikanischen Caduveo, Bororo oder Nambikwara in Gebiete entführt hat, in denen sich bestimmte Sprachen und Gebräuche weitgehend nur mehr in winzigen Gruppen finden. Umweltkatastrophen und Ausrottung, nirgends werden diese Umstürze mit stärkerer und bittererer Anschaulichkeit beschrieben als im Requiem der Tristes Tropiques . Mit Rührung betrachte ich die Fotografie ihres Autors, dieses Selbstzitat, das vor meinen Augen an der Wand hängt.

    In das Ende der Rottweiler Zeit fiel ein Ereignis, das mir nicht nur in Erinnerung geblieben ist, sondern wirklich bedeutend wurde für mich: die Fahrt, ja die Wallfahrt zu der von Le Corbusier erbauten Kapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp. Der Ausflug nach Burgund wurde 1958 zur Entdeckungsreise, die mich auf französischen Boden brachte. Heute ist es für mich wichtig festzuhalten, dass mich die Suche nach der Moderne, in Gestalt der modernen Architektur, zu meiner ersten selbstgewählten Reise geführt hatte. Zuvor war ich nur einmal, kurz nach dem Abitur, mit der Klasse und Direktor Scholter für einige Stunden über die Grenze nach Straßburg gekommen, um endlich vor der Wand des Münsters zu stehen. Die Möglichkeit religiöser Darstellungen in der zeitgenössischen Kunst beschäftigte mich stark. Dabei war es auffällig, dass es in Deutschland doch eher bei jämmerlichen Versuchen blieb, Kunst und Religion zu einem Dialog zusammenzuführen. Frankreich war der Ort, an dem für mich und meine Freunde die hervorstechenden Exempel einer möglichen Symbiose entstanden waren. Ich hatte von den erregten Diskussionen im republikanischen, laizistischen Frankreich gehört, und ich wusste von Père Régamey und dem erbitterten Streit, der nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der liturgischen Erneuerungsbewegung, die von den Dominikanern ausging, ausgebrochen war. Über Audincourt mit Bazaine und Léger, die Matisse-Kapelle der Dominikanerinnen in Vence und die Kirche in Assy, an deren Ausschmückung Bonnard, Léger, Chagall, Rouault, Matisse und Braque mitgewirkt hatten, über all dies war ich gut informiert.

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