Mein Glueck
Im Umkreis der zahlreichen Werke, die für den Kirchenraum entstanden, kam es in Frankreich zu einem spannenden Diskurs, der sich auf neue Weise und in ungeahnter Intensität auf zeitgenössische Kunst einließ. Das unterschied sich radikal von dem, was im Deutschland der Nachkriegszeit in der Diskussion weitgehend den Ton angab, Sedlmayrs Verlust der Mitte . Ich fraß dieses Buch, bewunderte es und hasste es dann. In Analogie zum berühmten Titel überschrieb ich einen Aufsatz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in den sechziger Jahren mit »Verlust der Mittel«. Denn damit wollte ich die Schwäche der Malerei erklären. Der zuständige Redakteur bekam dies nicht mit und korrigierte zu meinem Kummer »Mittel« in »Mitte«. Die Diskussion in Frankreich reichte unendlich tiefer. Sie hob die gegenstandslose Malerei, die Sedlmayr verfluchte, auf eine Ebene der Spiritualität, die außer in den Werken von Kandinsky und Malewitsch zuvor nicht existiert hatte. Der Diskurs über die Moderne war nie sakraler. Er überwand die Banalisierung der Sakralkunst mit ihren ausgeleierten Sujets, die durch eine lächerliche Stilisierung wiederbelebt werden sollte. Für eine Auseinandersetzung mit der informellen Malerei war die hergestellte Nähe zum Sakralen unbezahlbar. Sie lieferte ihr vorübergehend eine Legitimität, die sie aus ihrem eigenen Anspruch auf Autonomie wohl schwerlich hätte gewinnen können. Doch zu schnell schlich sich in diese Hinwendung zum Semiabstrakten eine Mittelmäßigkeit, besser gesagt eine Attitüde. Vor allem die Gestaltung der Chorräume war hiervon betroffen. Barocke Altäre wurden demontiert und durch granitene Opfertische ersetzt. André Chastel erzählte uns später auf Exkursionen, dass Priester ihre geweihten Altäre, die sie ja nicht zu Brennholz verarbeiten durften, in der geheiligten Erde der Friedhöfe begruben. Über diesen außergewöhnlichen, stimulierenden Lehrer entstanden entfernte Freundschaften. Bei ihm traf ich diejenigen, auf die es mir ankam, Jacques Thuillier, Antoine Schnapper, Thomas Gaehtgens und Christian Beutler, der uns Jüngere fabelhaft animierte. Er hatte die Wohnung in der Avenue d’Italie übernommen, in der Günter Grass die Blechtrommel geschrieben hatte. Als Monument dieser ehemaligen Präsenz stand immer noch, lange nach dem Auszug der Familie Grass, unten im Flur ein dunkler blauer Zwillingswagen.
Hinter dem Zusammengehen von Kirche und Künstlern standen zu Beginn mutige liberale Intellektuelle. Zu ihnen gehörten nicht zuletzt François Mathey, Maurice Besset und Maurice Jardot. Mathey war es in erster Linie zu verdanken, dass das Pariser Musée des Arts décoratifs nicht nur eine umfangreiche Sammlung zeitgenössischer Kunst aufbaute, sondern auch dafür sorgte, sie bekannt zu machen. Er stand auch hinter dem Plan eines Centre de création industrielle (CCI), das später als selbständige Abteilung ins pluridisziplinäre Centre Pompidou integriert wurde. Vor allem mit Maurice Jardot freundete ich mich rasch an. Er war der engste Mitarbeiter von Kahnweiler und ein Vertrauter von Léger und Le Corbusier. Wann immer ich wollte, konnte ich in seiner Pariser Wohnung am Quai Bourbon auf der Île Saint-Louis, mit Blick auf den Seinequai und das rechte Ufer des Flusses, seine fabelhafte Bibliothek nutzen. Jardot war einer der ersten, der sich nach Kriegsende für eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich einsetzte und sich couragiert gegen die Besatzermentalität des Zentralstaates in der französischen Zone zur Wehr setzte. Einige Vertreter der französischen Regierung haben früh dafür gesorgt, dass es nach dem Kriege zu keinerlei demütigender Missionierung und zu keiner allzu drückenden Bevormundung kam. Sie hatten es dabei keineswegs leicht. Denn die Hasstiraden Aragons und vieler anderer Intellektueller suchten die deutsch-französischen Beziehungen zu sabotieren. Leute wie Jardot schoben dem einen Riegel vor, sie sorgten dafür, dass die von Vergeltungsgedanken bestimmte Abrechnung mit Deutschland, die nach dem Ersten Weltkrieg auch die intellektuellen Beziehungen auf Jahrzehnte hin belastet hatte, nicht erneut von vorneherein einem Dialog im Wege stehen konnte. Das war für einen jungen Deutschen, der sich in dieser Zeit in Paris niederließ, von großer Bedeutung. Denn dieser hielt überall Ausschau nach Spuren von Sympathie für das unterworfene, zerstörte Deutschland. Es ging einem dabei wie Heinrich Heine, der einmal gestanden hatte, mit
Weitere Kostenlose Bücher