Mein Glueck
niemand erwartete. Zwischen Kehl und Straßburg gab es eine strenge Kontrolle. Alles hatte auszusteigen und dabei das Gepäck mitzuschleppen. Dieses musste geöffnet werden und wurde genau durchsucht. Der Grenzbeamte erkundigte sich einigermaßen unfreundlich nach dem Anlass der Reise. In Paris regnete es, als der Zug gegen 18 Uhr in den abweisenden, verrauchten Bahnhof einfuhr. Das dauerte endlos lange. Ich erkundigte mich nach einer Metrostation. Nun erwartete mich Paris, la Ville lumière. Aber wo war sie? Der erste Gang am neblig-regnerischen Abend über die Île de la Cité, vorbei am »Hôtel de Dieu«, an den Häusern entlang der Seine-Quais enttäuschte mich. Die Gebäude waren mehr oder weniger rabenschwarz. Die Konturen im Dunst verzogen. Mauern und Wände schienen mit fettem Ruß oder Staub bedeckt. An diesem Abend hatte ich das seltsame Gefühl, mich im Negativ eines Schwarz-Weiß-Films zu bewegen. Alle Lichtwerte standen auf dem Kopf. Doch nach wenigen Tagen erschien mir dieses Schwarz so selbstverständlich, dass ich es bald nicht einmal mehr wegdenken konnte. Erst Jahre später ergriff André Malraux die Initiative, alle Gebäude der Stadt, Viertel um Viertel, neu streichen oder mit Sandstrahl aufhellen zu lassen. Doch so wenig wie die anderen wollte ich mir eine helle Notre-Dame vorstellen. Jeder hatte Angst, Malraux werde uns eines Tages eine falsche Blondine aus dem Ärmel zaubern. Das erschien undenkbar. Würde damit nicht auch die Zeit, die man erlebt, in der man gelebt hatte, mit abgeschabt?
Als der Film dann nach und nach entwickelt wurde, zeigte sich die Stadt in hellem Glanz. Und der kam mir nun ebenso richtig und normal vor wie zuvor die nächtliche Version. An vielen Hauseingängen roch es nach feuchtem Moder und Dreck. Hier sah ich zum ersten Mal die gefürchteten Concierges, zumeist dicke Weiber, die, als seien sie hier für alle Zeiten abgestellt, neugierig und feindselig unter den Türen standen. Einige Jahre später ist mir da beinahe ein schlimmer Fauxpas passiert. Ich stand im westlichen Teil der Île de la Cité auf der Place Dauphine. Im Haus Nr. 15 war ich mit der Schauspielerin Simone Signoret verabredet. Ich sollte sie darum bitten, für den Süddeutschen Rundfunk eine Serie von Fernsehsendungen mit einer Vorrede zu eröffnen. Ich kam zum Haus, nicht weit von der Buchhandlung von Martin Flinker, der voller Stolz auf seine Bekanntschaft mit Thomas Mann war und in einem fort erzählte, wie es ihm gelungen war, im Restaurant »La Tour d’Argent« dafür zu sorgen, dass außerplanmäßig während des Abendessens zu Ehren des Nobelpreisträgers der Chor von Notre-Dame im Licht der Scheinwerfer erstrahlte. An der Eingangstür stand eine einschüchternde Matrone und aß mit Ausdauer Pralinen. Ich war überzeugt, die Concierge vor mir zu haben, und fragte nach Madame Signoret. Ihre Antwort: »Das bin ich, und ich warte auf Sie.« In der Wohnung im Erdgeschoss ging der Dialog mit der Pralinenschachtel weiter. Es entwickelte sich ein temperamentvolles und überaus freundliches Gespräch, in dem Simone Signoret von ihren Erinnerungen an die Dreharbeiten für »Casque d’or«, »La Ronde« und »L’Aveu« und ihren politischen Überzeugungen berichtete. Leider konnte sie das Angebot, die Sendung von Stücken von Marguerite Duras und anderen französischen Autoren einzuleiten, aus Termingründen nicht annehmen.
Von einem Freund meines Bruders hatte ich in Rottenburg gehört, dass Studenten in Paris eher als bei Privatleuten in einem der zahllosen kleinen Hotels auf dem linken Ufer der Seine einigermaßen preisgünstig unterkommen können. Ich schrieb einen Brief an die Adresse, die er mir genannt hatte, und reservierte im »Hôtel de Bourgogne«. Die Idee, dass in Paris ein Zimmer mit Frühstück auf mich wartete, ließ meiner Phantasie freien Lauf. Ich stellte mir vor, wie mir eine verführerische Französin morgens zusammen mit der Zeitung Kaffee und Croissants ans Bett brachte. Die Enttäuschung war der übersteigerten Erwartung angemessen. Das »Hôtel de Bourgogne« erwies sich als eine eher abscheuliche billige Absteige. Die Zimmer waren winzig und düster. Sie gingen zumeist auf einen schwarzen, stinkenden Innenhof, der das Geschrei der Familie Berthillon, die über dieses Haus herrschte, wie ein riesenhafter Schalltrichter verstärkte. Der auvergnatische Geiz, der hier zur Meisterschaft getrieben wurde, war in jeder Hinsicht erfinderisch. Die Wände waren von unsicherem, ekligem
Weitere Kostenlose Bücher