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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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auf eine geschichtliche Situation. Dieser Protest fiel zeitlich mit der Antwort zusammen, die Picasso in »Guernica« auf den feigen Überfall aus der Luft gegeben hatte.
    Beide Künstler verzichteten auf die Illustration einer real fassbaren Szene. Es ging um Verbrechen und Katastrophen, deren Ausmaß so gewaltig war, dass sie sich nicht weiterhin wie in der Historienmalerei auf gegenständliche Weise darstellen ließen. Was Ionesco diebisch freute, das waren Spiele, darunter die Séancen, bei denen es um die Interpretation von Klecksbildern ging. Hier verkleidete er sich in einen Psychodiagnostiker. Diese Rolle spielte er in überaus seriöser Weise. Solche Beschäftigung war für ihn offensichtlich wichtig, da die Inhalte, die er imaginierte, ständig den Interpretationswahn im Fluss hielten. Dazu gehörte im Dreiakter Amédée der Kampf mit einem Kadaver, der die Wohnung besetzt und der unaufhörlich wächst, Arme und Beine in die Nebenzimmer streckt und den die Bewohner nicht mehr loswerden. Es ist im Übrigen erwähnenswert zu sehen, dass kurz zuvor – 1955 – Hitchcock in »The Trouble with Harry« zu einem vergleichbaren makabren Running gag mit einer Leiche greift.
    »Cadavre«, »cadavre exquis«, spielen war für Ionesco so wichtig und befreiend wie für die ersten Surrealisten, die sich mit dem Gruppenspiel »cadavres exquis« oder mit spiritistischen Sitzungen abgegeben hatten. Als ein Ergebnis meiner Reaktion auf die selbstgefertigten Tafeln des Rorschachtests, die Ionesco auf der gehäkelten Decke des Wohnzimmertischs auszulegen pflegte, statuierte er, ich sei ein ekstatischer Melancholiker. Sicher hatte dies damit zu tun, dass ich in den Vorlagen vorwiegend das Nächtliche, die blinde Welt der Fledermäuse, den Traum der Vernunft à la Goya erkennen wollte. Die Diagnose klang anders als die Becketts. In einem Gespräch kam die Rede auf Kretschmers Charaktertypen. Ich meinte, ich sei, dem Urteil Ionescos folgend, doch eher melancholisch, vielleicht sogar manisch-depressiv. Dem widersprach er strikt und dekretierte: »Nein, du gehst eher Richtung schizothym.« Ionescos Beurteilung hatte mir geschmeichelt. Ich trug sie wie eine Dekoration. Denn Melancholie, wenn auch mehr oder weniger als Attitüde, erschien mir als etwas überaus Distinguiertes. Wie oft hatte ich als Halbwüchsiger meinen Kopf schräg gehalten, damit wirklich niemand mein Unglücklichsein übersehen könne. Vor dem Spiegel erprobte ich die wirkungsvollste Position. Die Arbeit an der überdrehten Mimik perfektionierte ich im bischöflichen Konvikt in Rottweil weiter. Dort suchte ich nach dem besten dem Augenblick angepassten Gesicht, nahm es wie eine Maske mit in die Kirche, zum Gespräch mit dem Vorsteher des Instituts oder mit zu den Kameraden. Es waren Attitüden und Verstellungen, mit denen ich mich lange zu retten oder mich einzuschmeicheln suchte. Ich spürte, dass sich das Mienenspiel jederzeit leicht verändern und an die Situation anpassen ließ. Eine längere Wirkung war nicht vorgesehen und auch nicht notwendig. Das gehörte zu der Zeit, in der ich noch daran glaubte, alles heile schnell und von selbst. Denn damals schlüpfte ich, wenn mir etwas fehlte oder wenn mich etwas betrübte, abends ins Bett und hatte die Gewissheit, dass das Übel über Nacht verschwinde. Doch nach und nach brauchte ich für das, was mich bedrückte, eine beharrlichere, ja eine nicht endende Nacht.
    Die ganze Wohnung der Familie Ionesco war mit geschnitzten, fotografierten, gemalten, aus Plüsch gefertigten Rhinozerossen besetzt. So eine Massentierhaltung hatte ich zuvor noch nie gesehen. Das Symbol der Hysterie, der Vermassung ist in dieser Privatmenagerie gezähmt, zum Marionettentheater geworden. Den Vorwurf, aus einer Idee ein abendfüllendes Stück gemacht zu haben, wies er weit von sich. Er meinte, er habe diese Länge gebraucht, weil das Sujet nach einer bestimmten epischen Breite verlange, und er fügte hinzu: »Ich wollte ein Experiment machen. Das Thema, wie eine ganze Epoche der Vermassung, dem Konformismus verfällt, hat diese Lösung vorgeschrieben.« Der glückliche und erfolgreiche Dompteur sitzt lächelnd unter seinen Haustieren, auf violett bespanntem Polstersitz. In der kleinbürgerlichen, wattierten Umgebung fühlte sich der Hausherr wohl. Er lebte in diesem radikalen Kitsch sichtlich auf. Und er konnte es sich leisten, mit der Duplizität von Geschmack umzugehen.
    Kitsch ist immer das, was man gerne dem anderen ins Wohnzimmer

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