Mein Glueck
(»Doch was ich bräuchte, ist Zeit, Zeit und nochmals Zeit.«) Mit einem Schlag verlieren die Wörter bei ihm ihre angestammte Identität. Sie lassen sich wie abgetragene Kleider neu fassonieren. Das Spiel mit den Verschiebungen, zu denen die Redundanz lotst, steht am Beginn der Spannung, die die Dramaturgie seines Theaters aufbaut. Man spürt, jedes Wort, das Ionesco verwendet, sollte ungewohnt, ungebraucht erscheinen. Der Autor kultiviert Fremdheit, logiert im Vokabular ungewöhnliche Bedeutungen ein, bringt diese unter dem Vertrauten wie störende, unappetitliche Hausbesetzer unter. Aus diesem Grunde gab es für ihn beim Schreiben auch so gut wie kein Interesse an Etymologie. Er beschränkte sich auf ein überschaubares Inventar echoloser Primwörter, die wie Etiketten auf einer und nur auf einer ganz bestimmten Sache kleben. Ich hatte den Eindruck, es seien frisch gesohlte Vokabeln, mit denen er sich als erster aufs Parkett traute.
Bei mir verband sich der Besuch der Theaterabende Ionescos im Théâtre de la Huchette mit lebendigen Erinnerungen an die ersten Jahre, in denen ich auf der Schule Französisch paukte. Ich suchte sofort, die Hauptworte und Eigenschaftsworte, die ich damals im Unterricht lernte, so schnell wie möglich anzuwenden. In Rottenburg, am Neckar bei Siebenlinden, wo wir im Sommer im opaken, unheimlichen Fluss, seinem widerlich hätschelnden Schlamm und seinen Schlingpflanzen badeten, wagte ich, bevor ich überhaupt schwimmen lernte, als Zehnjähriger meine ersten Ist-Sätze, um mit einem französischen Offizier und seiner Familie ins Gespräch zu kommen. Ich war mutig und ließ mich durch nichts abhalten, auf diese Weise eine erste Bekanntschaft mit Franzosen zu machen. Auch wenn dieses Stammeln am Neckarufer nicht sehr weit führte, so spürte ich doch bei dieser Gelegenheit erstmals, wie ich mit Wörtern, die mir nicht gehörten, in eine Fremdheit einbrechen konnte. L’âge d’homme von Leiris war, verglichen mit dem, was ich bei Ionesco kennenlernte, ein Buch der Not, der psychoanalytischen Autopsie, zu der den Autor die Rückkehr von der harten, langen und traumatisierenden Afrika-Expedition gezwungen hatte. Leiris führt immer wieder Szenen aus dem eigenen Leben vor. Und deren Darstellung partizipiert an der ethnologischen Ferne, in die ihn diese Entdeckungsreise gebracht hat. In das, was vom Erlebten berichtenswert erscheint, dringen frühere Episoden und Stimmungen wie Metastasen ein. Was Leiris dabei an den Tag fördert, liegt auf einem Möbiusband der Erinnerung nicht weit von der Proust’schen Selbstbefragung, in der Fläche in Raum, Raum in Fläche, Raum in Zeit, Zeit in Raum stürzen können. Unentwegt begegnet er sich dabei selbst. Nie biedert er sich an, und er wendet sich auch nicht wie Baudelaire an den »scheinheiligen Leser«, »meinen Mitmenschen, meinen Bruder!«. Den braucht er nicht. Es ist ein Buch, das in seiner Lust an Blasphemie und Verdammung alle Annäherung und alle Hoffnung auf Verstehen und Absolution verwirft. Nach und nach bröckelt auf diesen Seiten die Verklärung der beschützten großbürgerlichen Herkunft ab. Der Blick in die Kindheit wird ein Blick ins Böse und Unheimliche. Es tun sich Abgründe auf, denen sich der Leser genießerisch mit einem Schwindelgefühl nähern möchte. Denn es sind verführerische Abgründe, die die Dinge bis zur Nacktheit aufreißen. In diesem Umkreis, wie auch in der Begegnung mit dem »Wahrlügner« Aragon, entdeckte ich den unerreichbaren Gradus ad Parnassum der Selbstbezichtigung und Schamlosigkeit. Und ich verstand auch, dass nur er in der Lage war, den Surrealismus auf eine unvergessliche Formel zu bringen, die Leben und Sucht einschließt: »Das Laster, das man Surrealismus nennt, ist der hemmungslose und leidenschaftliche Gebrauch der Droge Bild.«
Ich habe Michel Leiris als Zweiundzwanzigjähriger wenige Tage nach meiner Ankunft in der französischen Kapitale kennengelernt. Ich wollte dort nach einem Aufenthalt in Wien mein Studium fortsetzen. Der Spätnachmittag, an dem ich das erste Mal die Galerie Louise Leiris, 47, rue de Monceau, betrat, ist mir in allen Einzelheiten in Erinnerung geblieben. Es war am 13. November 1959 , an dem Tag, da bei Louise Leiris die Ausstellung »50 ans d’édition de D.-H. Kahnweiler« eröffnet wurde. Kaum eine Woche zuvor war ich an einem Regentag mit meinem schweren Koffer an der Gare de l’Est aus Stuttgart in einer Stadt angekommen, von der ich alles erwartete und in der mich
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