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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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dass Kelly damals bereits seine Cut-outs herstellte, die auf die Begegnung mit den späten Papierschnitten Matisse’s und seine eigenen Blumenstudien zurückgingen, die in ihrer Suche nach Kontur und Vereinfachung am ehesten ihr Äquivalent in den strengen, verfremdenden Fotografien aus Karl Blossfeldts »Urformen der Kunst« besaßen. Kelly setzte ständig bei Gesehenem ein. Im Gespräch verwendete er, um dies zu verdeutlichen, mit Vorliebe den Ausdruck »flashes«. Es sind Kristallisationen, in denen Sinneseindrücke zu einer übergreifenden, nicht mehr als real erkennbaren Form synthetisiert werden.
    Ich traf diesen radikalen, vor Begeisterung glühenden Künstler immer wieder in New York oder auch in Bel Air bei Douglas S. Cramer. Nach und nach bekam ich mit, dass zu dem Haus, Nr. 31 in der Rue Saint-Louis en l’Île, die die Seine-Insel in zwei gleich große Portionen zerschneidet, sogar ein Paradies, der bekannteste Eisladen der Stadt, gehörte. Voller Stolz berichtete mir der Patron, der fast jeden Morgen in der Frühe mit einem Schubkarren frischer Früchte vom Pavillon Baltard in der rue Berger im Hallenviertel zurückkehrte, dass Michèle Morgan, die im berühmten »Hôtel Lambert« wohnte, und ein Prince de Bismarck oder Madame Pompidou zu den prominenten Kunden der »Glaces Berthillon« zählten. Raymond Berthillon, der einen scharf gezogenen Mittelscheitel und einen schwarzen Schnauzer trug, war im Umgang freundlich und offen. Er erinnerte irgendwie an den jungen Mann, der sich in Manets »Chez le Père Lathuille« herausfordernd seiner Begleiterin zuwendet. Im Gespräch tauchten bei ihm die letzten Überbleibsel der Kollaboration auf. Einige Worte auf Deutsch halfen ihm, unzensiert den Hass des Angeheirateten auf die Familie loszuwerden: »Schwiegermutter kaputt machen.« Das sagte er hinter der Theke mit so süßer Freundlichkeit, dass die harte alte Madame Dangles in keiner Weise beunruhigt sein konnte. Alles in diesem Haus lebte von Verdächtigungen. Die Schwiegermutter, der das Hotel gehörte, blieb nachts kampfbereit in einer dunklen Ecke unter der Treppe sitzen und wachte streng darüber, dass ja kein Gast irgendjemanden aufs Zimmer mitbrachte. Das war eine Figur à la Zola. Etwas Sesshafteres als diese Patronne habe ich nie kennengelernt. Sie entfernte sich nie von ihrem Besitz. In ihrem ganzen Leben war sie, wie sie stolz erzählte, nicht ein einziges Mal auf die rechte Seite der Seine vorgedrungen. Der Louvre, die Place de la Concorde oder die Oper interessierten sie nicht, sie hatte sie zu keiner Zeit sehen wollen.
    Das stellte für mich die Welt auf den Kopf. Eis gehörte für meine Vorstellung zur Hitze, zum Sommer. Von der gastronomischen Rolle von Gefrorenem hatte ich noch keine Ahnung. Erst später, als ich längst ausgezogen war, nahm ich Freunde mit zu »Berthillon«. Und Siegfried Unseld, wie in allem so auch hier, bacchantischer als die Umwelt, orderte einen Pokal, gefüllt mit Eiskugeln, der so mächtig wie das Wappenbild der Medici ausschaute. Mir ging es damals doch eher darum, etwas Warmes im Magen zu haben.
    Um dem Restaurant »Universitaire« zu entkommen, gönnte ich mir ab und zu ein kaltes Stück Huhn, packte es in einen Plastikbeutel und ließ diesen einige Minuten lang in heißem Wasser schwimmen. Dafür schien mir das Bidet im Zimmer das dafür bestimmte Gerät zu sein. Denn diese typisch französische ovale Wanne aus Porzellan war für jemanden, der aus der deutschen Provinz kam, zugegebenermaßen völlig mysteriös. Einige Jahre später überreichte mir Joseph Breitbach, der in einem weitläufigen Appartement an der Place du Panthéon lebte und großen Hof hielt, seinen jüngsten Roman, der unter dem Titel Das blaue Bidet erschienen war. Der Ich-Erzähler Barbe ist derart über dieses Manko in Deutschlands Hotels entsetzt, dass er sich nur noch mit einem für ihn gefertigten Reisebidet durchs Land bewegt. Es war eine Liebeserklärung des homosexuellen Causeurs, der mit Verve seine Gäste mit der Feststellung schockierte, dass diese Einrichtung nicht nur für Damen erdacht worden sei, die »ihre Gier auswaschen« wollten. Und er berichtete, dass er in der vergangenen Nacht seinen Diener darum bitten musste, ihm in diesem Utensil die Hoden zu massieren, um seine bösen Schmerzen zu mildern. Ich versäumte leider damals, ihn danach zu fragen, ob man diese exponierte Beschäftigung mit dem sanitären Objekt als Antwort auf die Provokation von Duchamps »Fountain«, die

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