Mein Glueck
die sie mir je gestellt hatte, es war die Frage nach meinem Geburtsjahr. Lange habe sie nach dem Krieg nicht mehr nach Deutschland fahren können und geschworen, sich nicht mehr der deutschen Sprache zu bedienen. Erst Max Bense, der sie nach Stuttgart eingeladen habe, habe sie schließlich davon überzeugen können, dass in Deutschland menschliche Wesen lebten. Die zärtlichen Widmungen, die sie mir in ihre Bücher schrieb, machen mich ebenso glücklich wie die Manuskriptseiten für Enfance ( Kindheit ), die sie mir eines Tages überreichte. Sie entnahm sie dem Paket, das sie kurz darauf der Bibliothèque Nationale aushändigte. Ein Blick auf die klare, bis zuletzt sichere Handschrift, auf die Streichungen oder Korrekturen, die sie ausführte, sagt unendlich viel über ihr Zögern, über ihr Misstrauen gegenüber der raschen Formulierung. Schließlich erzählte sie mit Rührung und Dankbarkeit von ihrem Studienjahr in Berlin. Sie sprach blendend Deutsch und konnte mit Elmar und Erika Tophoven, ihren Übersetzern, jedes sprachliche Detail diskutieren. Im Winter 1921–22 hatte sie bei Werner Sombart Vorlesungen zur Soziologie gehört, und die Lektüre von Tonio Kröger sei damals, noch lange ehe sie anfing zu schreiben, für sie zur literarischen Entdeckung geworden: »Das war ein Schock«, sagte sie mit dem schönsten, tiefsten Lächeln, das ich je gesehen hatte. Ihr mit den zahllosen Fältchen wie plissiert wirkendes Gesicht, das von grauem, kurzgeschnittenem Haar gerahmt wurde, beeindruckte jeden, der mit ihr zusammentraf. Eine leichte Koketterie ließ sie hin und wieder behaupten, sie habe heute ein enorm dickes Gesicht, woraufhin sie die Wangen einzog. Ich werde immer auf der Suche nach Nathalie bleiben. Monique und ich fuhren zu ihrem Landhaus nach Chérence, das auf einer Ebene hinter einem zur Seine hin abfallenden Steilhang liegt, an dessen Wand man die hellen Ablagerungen des Gesteins genau erkennen konnte. Die hübsche Ortschaft liegt nicht weit von Bonnards Vernonet und Monets Giverny entfernt – und Monets alles zerstäubende Wiederholungen passen zur »art imperceptible des petits raisonnements« der Autorin, also zu ihrer »unsichtbaren Kunst der kleinen Gedankengänge«. Zu Nathalies Beerdigung in den letzten Oktobertagen des Jahres 1999 fuhren wir nach Chérence. Es war ein stürmischer Samstag, mit dramatisch fliehenden Wolken, mit scharf vor dem Gesicht auffliegenden Krähen. Es gab auf dem Friedhof keine Zeremonie und keine Worte. Die Versammlung stand schweigend da. Dieses Schweigen war das der »sous-conversation«, der unterschwelligen Kommunikation, der Romane und Prosastücke Nathalie Sarrautes, mit der sie immer über die Spitzen der Sprache gestiegen war. Ich dachte an dieses fabelhafte Leben und ihren Erfolg. Es war tröstlich, dass sie die höchsten Ehren für einen französischen Schriftsteller, die Veröffentlichung ihrer gesammelten Schriften bei Gallimard in der Bibliothèque de la Pléiade, noch erleben und genießen durfte. Nur Jean Giono war außer ihr zu Lebzeiten eine solche Ehre zuteil geworden. Vor kurzem haben wir den Friedhof noch einmal besucht. Das Grab mit den zwei halbrunden Steinen, die Gesetzestafeln gleichen, konnten wir nur wiederfinden, weil wir uns genau an die Stelle auf dem kleinen Friedhof erinnerten. Die Namen von Nathalie und Raymond und die Lebensdaten waren fast unlesbar. Sie wurden wie auch die Grabplatte von dichten grauen und braunen Flechten verdeckt. In der Nähe befinden sich die Gräber von Eugène Jolas, des berühmten Gründers der Zeitschrift Transition , in der früh Texte von Gertrude Stein, Samuel Beckett und James Joyce erschienen, und seiner Frau Maria McDomand-Jolas, der großen Übersetzerin von Nathalie Sarraute, die man bis zu ihrem Tod im Jahr 1987 regelmäßig bei Nathalie treffen konnte. Wir wanderten dann durch das Dorf, an der Kirche vorbei, zum Haus Nr. 12, rue de l’Église. Hier hatte Nathalie bis zu ihrem Tod 1999 vierzig Jahre lang die Wochenenden und auch ihre Ferien verbracht – abgesehen von ihrem jährlichen Aufenthalt in Carloforte auf der Insel San Pietro vor der Südwestküste Sardiniens , in der Ägäis auf Skyros oder, in der größten Augusthitze, am Lido und in einer Pension in der Nähe der Accademia in Venedig. In Jahrzehnten hatte sich hier nichts geändert. Ihr Haus ist das erste, auf das man bei der Ankunft in Chérence stößt. Nur das Gebäude, das ein Schweinezüchter aus Deutschland, ein Adliger, wie Nathalie
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