Mein Glueck
Besuch: Zu Beginn der fünfziger Jahre sei Picasso mit seinem Hofstaat hereingeschneit. Ihre jüngste Tochter Dominique habe im Garten auf einer Leiter gestanden und Kirschen gepflückt. Nathalie beschrieb das Befremdlichste, was sie je erlebt hatte. Picasso berührte im Haus alles, manipulierte alles, nahm alles in Besitz – er tat all das, was Nathalie Sarraute zeitlebens diskret und misstrauisch zu umgehen suchte. Er sei mit Françoise Gilot und Fahrer angereist und habe bei diesem Besuch Nathalie aufgefordert, sie möge ihm doch die Tochter überlassen. Er wolle ihr ein Kind machen. Und an Françoise gewandt, soll er hinzugefügt haben, das wäre doch in jeder Hinsicht fabelhaft, dann hätte er wie früher wieder Milch für seinen Kaffee zum Frühstück. Keiner kann sich vorstellen, was dieser brutale Angriff für Nathalie bedeutete. Schließlich habe sie ihm auch noch den schönen geflochtenen Weidenkorb, den sie mit Raymond während der Ferien in Andalusien erstanden hatte, mit Kirschen gefüllt mitgegeben. Dieser Korb habe ihn so stark an seine Heimat erinnert. Nathalie war solchen direkten Angriffen gegenüber hilflos. Nach der Abfahrt des grausamen Machos sei sie in Tränen ausgebrochen. Er habe sie an ihren Vater erinnert, an die Konflikte, die in ihrer Kindheit bis aufs Messer ausgefochten wurden. Und doch bewunderte sie Picasso wie Mozart und noch mehr als Dostojewski. Allenfalls Shakespeare ließ sie neben ihm gelten. Was sei neben Picasso die Literatur, doch nicht mehr als ständiger Selbstzweifel, meinte sie. Erst nach und nach komme der Schriftsteller zu etwas Gewissheit und Erfolg. Als sie mir das erzählte, kam sie gerade von einer Lesereise aus den USA zurück. In New York sei sie wirklich gehemmt gewesen, als sie hörte, dass Christo, »dieses riesige Genie«, im Saal gesessen habe. Sie war überglücklich, als ich sie 1985 im Herbst nach einem Mittagessen im »Voltaire« mit Christo und Jeanne-Claude, die gerade den Pont Neuf verhüllten, zusammenbrachte. Ein anderer Künstler stürzte sie eines Tages in Verwirrung. Pierre Soulages hatte ihr eine kleine Gouache übersandt. Sie lag in Paris auf einer Kommode im Arbeitszimmer neben der Whiskyflasche, und Nathalie fragte mich ratlos, was ich davon hielte. Ich machte dem Künstler keine Komplimente. Sie dankte ihm schließlich und war erschüttert und verstört, als sie darauf einen Brief erhielt, in dem Soulages Nathalie um ein Vorwort für einen Katalog bat. Darunter litt sie unendlich. Nie hatte sie über Kunst geschrieben oder so etwas wie einen Gefälligkeitstext verfasst. Ich gab ihr den Rat, am besten gar nicht darauf zu reagieren. Sie hasste den Umgang mit Menschen, die sie kaum kannte oder denen sie aus dem Wege gehen wollte. Als die Galerie de France nach einer Vernissage zum gemeinsamen Abendessen einlud, kam es zu einer kleinen Horrorszene. Jemand rief Marcelin Pleynet an unseren Tisch, damit er mit Nathalie sprechen könne. Es kam zu einem Dialog, wie man ihn aus ihren Hörspielen kannte. Ein gehemmtes, steifes Nichtssagen à la »Sie waren in New York?« kam zustande. Ich versuchte das Gespräch zu beenden und fragte Pleynet, woran er im Augenblick arbeite. Das lieferte ihm jedoch nur einen willkommenen Anlass, das Gespräch fortzusetzen. Sofort wandte er sich an Nathalie mit dem Satz: »Ich werde Ihnen meinen letzten Roman schicken.« Während der Heimfahrt beschäftigte diese Drohung Nathalie unentwegt: »Das ist schrecklich. Man darf ja nicht am selben Tag, da man ein Buch bekommt, schon antworten. C’est grossier. Ich weiß nicht, was ich dann schreiben kann. Was für eine schreckliche Aussicht, ein Buch zu bekommen und darauf reagieren zu müssen.«
In vielen Momenten könnte die Erinnerung an diese große Schriftstellerin einsetzen. Doch ich gehe vom Unerwartetsten aus, vom Tode Nathalies. Sicher, es war ein angekündigtes, mit Angst erwartetes Sterben. Deshalb erschien alles so unwahrscheinlich. Schon vierzig Jahre zuvor hatte sie den in der Zukunft bevorstehenden sechzigsten Geburtstag ein »date tragique« genannt. Einmal meinte sie: »Der Tod, das ist wie in dieser russischen Geschichte: Ein Zirkus verkündet ›Freier Eintritt‹. Die Menschen kommen und drängen sich zusammen, und erst beim Hinausgehen entdecken sie das Schild: ›Ausgang 2 Rubel‹.« Bei den unzähligen Besuchen in der Avenue Pierre Ier de Serbie hatte ich ihre Angst gespürt. Regelmäßig erkundigte sie sich, wie alt jetzt Ernst Jünger sei und wie es
Weitere Kostenlose Bücher