Mein Glueck
dass allein die Kontur übriggeblieben war. Auf den Kopf und einen Arm und eines der beiden Beine des »Dornausziehers« hatte er verzichtet. Anschließend setzte er auf diese verknappte Darstellung den Kopf einer Sphinx, auf die er in einer völlig anderen Publikation gestoßen war. Die Schnittstellen waren so perfekt miteinander verbunden, dass niemand auf den Gedanken kommen sollte, hier seien einander fremde Motive zu einer Illustration zusammengeflossen. Doch zahllose andere Arbeiten bestätigten dieses Vorgehen. Die Begegnung der verstümmelten Silhouette des »Dornausziehers« mit dem Kopf der Sphinx wurde für mich in dieser unvergesslichen Nacht zum Symbol der unvorhersehbaren und irritierenden Verrätselung, die Max Ernst in seinem Werk verankern wollte. Deshalb meinte ich auch, Max Ernsts Collage als Synonym für ein perfektes Verbrechen nehmen zu können, in dem jedes Indiz, das auf eine verfolgbare Herkunft des Materials schließen ließ, zum Verschwinden gebracht werden sollte. Ich beschloss, in der Publikation, an der mich der unvergessene Freund Karl Gutbrod, der auf brillante Weise den Verlag DuMont Schauberg leitete, mitzuarbeiten einlud, eine umfassende Auswahl von Quellen für Collagen und Bilder im Annex zu publizieren. Karl Gutbrod war überall angesehen. Zusammen besuchten wir Künstler und Witwen. Nina Kandinsky war in ihn verliebt. Bei einem gemeinsamen Besuch im »Grazy Horse« in Paris fragte sie unvermittelt Karl, wobei sie an ihrer Bluse nestelte, ob er auch schon russische Busen gesehen habe. Um der Demonstration zu entkommen, antwortete er auf das schnellste: »Ja natürlich.« Karl und Krista Gutbrod, die Tochter von Willi Baumeister, gehörten zu den engsten Freunden von Max. Die Bestätigung dafür bekam ich eines Tages, als mich Max Ernst anrief und fragte, ob ich auch ein Telegramm erhalten hätte? Ich fragte, was für eines? Er antwortete: »Karl ist gestorben.« Als ich das erschreckt verneinte, antwortete er wörtlich: »Ja dann handelt es sich um meinen Bruder Karl. Aber das ist nicht so schlimm.« Dieser Bruder ging ihm sowieso auf die Nerven, denn als Arzt, der damit beauftragt war, auf der Pilgerreise der Erzdiözese Köln nach Lourdes die Kranken zu begleiten, sei er jedes Mal bei ihm vorbeigekommen und habe ihn gefragt, ob er sich nicht in seinem Alter endlich einer Operation der Prostata unterziehen wolle. In Bruder Karls Krawatte stak wie immer eine Perle, und als Antwort zeigte Max auf sie und sagte: »Und du hast eine Perle.«
Auf einige Vorlagen, die wie Readymades fast eins zu eins zu Bildern vergrößert wurden, hatte ich bei der Vorbereitung der Publikation verzichtet, weil ich fürchtete, der Leser könne dies als Hinweis auf eine kinderleichte Arbeit missverstehen. Und es gehe auch nicht darum, schrieb ich damals in meinem Vorwort, das Abgeschnittene wie einen verlorenen Groschen durch die Hintertür wieder ins Werk zurückzubringen. Bei aller Freude an der Entdeckung stand mir immer ein Satz aus Der Mann ohne Eigenschaften vor Augen, in dem von entschleierten Geheimnissen die Rede ist. Über diese schreibt Robert Musil: »Es bleibt von allen ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat.« Als es schließlich so weit war und mir Winfried Konnertz vom Verlag die umfangreiche fertige Maquette des Buches überbracht hatte, reiste ich im Winter 1973 nach Seillans. Im Wohnzimmer setzten wir uns gegenüber an den großen Tisch in der Nähe des monumentalen Bildes »Un peu de calme«, und ich blätterte aufgeregt und besorgt, wie Max auf diese »Enthüllungen« reagieren würde, Seite um Seite für ihn um. Das dauerte endlos lange. Er interessierte sich sofort für die zahlreichen Zwischenüberschriften und die Hunderte von Reproduktionen von Werken, die ich ausgesucht hatte. Dann klopfte mir das Herz, es kam der Moment, vor dem ich richtig Angst hatte. Ich schlug die erste Seite mit den Vergleichsabbildungen auf. Ein Blatt folgte auf das andere, mir schien diese Prozedur endlos, weil Max keineswegs drängte, sondern offensichtlich alles genau betrachten wollte. Er sprach kein einziges Wort. Als wir fertig waren, schwieg er einen kurzen Augenblick, schaute mich an mit den Worten: »Niemand außer dir hatte das Recht, das zu veröffentlichen und vor aller Augen auszubreiten.« Er war sich sofort klar darüber, dass es nicht um Enthüllung und Demystifikation ging, sondern um einen
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