Mein Glueck
hinzufügte, später weiter unten am Eingang des Dorfs errichtet hatte, störte sie empfindlich. Und der Neubau, der zur Zeit neben ihrer »Datscha« errichtet wird und für den die Böschung rechts vom Haus abgetragen und planiert werden musste, hätte sie sicherlich auch erbost. Der zweistöckige, aus Stein gemauerte Bau mit dem roten Dach hat seine graue Patina behalten, und diese wird wie eh und je durch lindgrüne Fensterläden aufgehellt. Das kleine Vordach über dem großen Tor, das neben dem Haus in den Garten führt, bedeckt weiterhin ein kleiner Teppich aus Moos. An einem Teil des Mauerwerks sprießt ein bisschen Efeu. Hinter dem Haus liegt der weite, leicht ansteigende Garten mit einer knapp geschorenen Wiese und hohen Bäumen. Vom ersten Stock aus führt eine kleine Freitreppe hinunter zum Rasen, ums Geländer ranken sich rote Rosen. Ein Weg, an dem entlang Holunderbüsche wachsen, führt links am Haus zu einer Umgehungsstraße, zu Getreidefeldern, in denen meine heute so selten gewordenen Lieblingsblumen, Klatschmohn und Kornblumen, wachsen, und zu einer Koppel mit braunen Pferden.
Im Haus saßen wir zumeist in einem hohen Raum zusammen. Wir machten Ausflüge, die uns zu einer Mühle und dann weiter unten an die Seine zum Château de La Roche-Guyon führten. Nathalie trug, wenn es etwas kühl war, zumeist ihren hellbraunen Wildledermantel mit Pelzkragen. An diesen Touren nahm ab und zu auch Monique Wittig teil, die häufig zusammen mit ihrer Lebenspartnerin Sande Zeig hier den Sommer verbrachte. Sie hatte 1964 bei Jérôme Lindon den aufregenden Roman Opoponax veröffentlicht, dem noch im selben Jahr der Prix Médicis zugesprochen wurde. Marguerite Duras begrüßte dieses Erstlingswerk in einem Nachwort als das wohl erste moderne Buch, das das Innere der Kindheit zum Thema gemacht habe. Opoponax gehört zu den großartigsten Büchern, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben worden sind. Es erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, von der Zeit im Kindergarten bis zum letzten Schuljahr. Die Entwicklung, das Heranwachsen des Kindes spiegelt sich in dessen schleppender Eroberung der Sprache, im Übergang aus einer Welt des »man« in ein subjektives, empfundenes Leben, das sich von den anderen zu unterscheiden beginnt. Nichts Idyllisches zeigt sich hier. Das Buch schildert allein die Grausamkeit des kindlichen Überlebenmüssens. Die Sprache arbeitet mit Auslassungen und Anspielungen. Die sprunghafte, immer wieder von neuem einsetzende Redeweise der Kleinen macht den Eintritt in die Welt spürbar. Jedes Wort wirkt schwer, da es noch unverbraucht ist und in seiner Exklusivität nichts Zweideutiges hat. Die Sätze sind kurz, Eigenschaftswörter fehlen. Sie treten nur auf, wo ohne sie eine Bedeutung nicht festzulegen wäre. Es gibt Seiten, auf denen nur ein einziges Adjektiv gebraucht wird. Überaus erfolgreich waren die Hörspiele, die sie mir für Stuttgart schrieb, »Johannisfeuer« und dann »Die Massage«. Die durch die Bewegungen des Körpers erzeugten Geräusche meint man in diesen Texten wie eine Metasprache zu vernehmen. Das sprachliche Delirium ist in einer Abfolge von rhythmischen Wechseln komponiert. Nicht nur der Körper, auch die Sprache wird »massiert«. In der Folge entwickelte sich Monique Wittig, die zwischenzeitlich in die USA gezogen war, zu einer kämpferischen, ja fanatischen Lesbierin. Sie gehörte zu den Begründerinnen des »Mouvement de libération des femmes« und legte 1970 unter dem Arc de Triomphe in Paris mit einer kleinen Gruppe von Frauen einen Strauß für die unbekannte Frau des unbekannten Soldaten nieder. Damals begann sie sich auch mit Alice Schwarzer anzufreunden. Anschließend veröffentlichte Monique Wittig 1969 Les Guérillères ( Die Verschwörung der Balkis ), eine Geschichte von Amazonen, in der sie keine männlichen Wörter und Formen mehr verwendete. War es ein Zufall, dass in diesem Jahr auch Georges Perecs aufregender leipogrammatischer Roman La Disparition ( Anton Voyls Fortgang ) erschien? Ich interpretierte Monique Wittigs manieristischen Parforceakt, keine maskulinen Formen zu verwenden, deshalb zunächst vor dem Hintergrund des Oulipo-Kreises in Frankreich, dem es darum ging, durch die Befreiung von formalen Zwängen, wie das Weglassen von Buchstaben, die Sprache zu verändern. Der Surrealismus, das Collège de Pataphysique, François Le Lionnais und Raymond Queneau waren hierbei offensichtlich die Vorbilder. Meiner
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