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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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die er verwenden konnte, fast ausschließlich der Welt von Reproduktionen entstammen, die das späte neunzehnte und das beginnende zwanzigste Jahrhundert hinterlassen hatte. Doch das half nicht viel weiter. Ich musste mich durch eine Sintflut an Büchern, Dienstmädchenromanen und Traktaten arbeiten. Langsam konnte ich mich an so gut wie alle Details aller Arbeiten und Collageromane erinnern und hatte ich so gut wie alle Arbeiten, alle Collageromane im Kopf und blätterte auf der Suche nach den Quellen Hunderte, wenn nicht Tausende Druckschriften durch. Es waren häufig Bücher, die ich in keiner Bibliothek auftreiben konnte, die mir vielmehr der Zufall bei Bouquinisten und in Buchantiquariaten in die Hände legte. Ich bekam dabei rasch einen Riecher für die Besonderheiten der Holzstiche oder der Publikationen überhaupt und sah oft auf den ersten Blick, ob diese für Max Ernst in Frage kamen. Ich spürte, wenn ich ein Buch in die Hand nahm und aufschlug, ob ich in ihm fündig werden würde. Auf diese Weise sammelte ich Hunderte von Quellen. Häufig fand ich in einem tausendseitigen Buch lediglich ein winziges Detail, das in irgendeiner Arbeit als Attribut oder Formergänzung auftauchte. Andere Publikationen erwiesen sich dagegen als wahre Goldadern. Für ein Kapitel des Collageromans Une semaine de bonté verwandte Max Ernst den durchgehenden narrativen Ablauf eines zweibändigen Romans, brachte jedoch die ursprüngliche Kausalität auf verwirrende Weise zum Verschwinden. Weil in den Vorlagen einzelne Teile aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst worden waren, häufig gedreht oder auf den Kopf gestellt, war es auf den ersten Blick nicht einfach, Max Ernst auf die Schliche zu kommen. Es kam deshalb darauf an, die Bücher nicht nur einmal zu sichten, sondern in sie immer erneut wie in eine Grube einzufahren und auf Suche zu gehen. Nur wenige, besonders sensationelle Funde zeigte ich damals Max. Darunter die Quellen für das Blatt »Parole« zu Éluards Buch Répétitions . In ihm hatte er neben die Abbildung eines Skeletts einen Ausschnitt aus der Reproduktion des Dürerstichs »Adam und Eva« gestellt. Der Eva bei Dürer schnitt er den Kopf ab, verkürzte den unteren Teil der Beine und brachte auf diese Weise eine absolut verblüffende Veränderung des Ausgangsbildes zustande. Von der ursprünglichen kanonischen Gestalt der Figur war nichts mehr zu ahnen. Max Ernst schaute sich das an, sah mich an und sagte: »Nie, dachte ich, würde jemand dahinterkommen.« Es wurde eine spannende Detektivarbeit, die mich bald nicht mehr losließ. Auch heute noch spüre ich dann und wann in einem Folianten oder Quartband aus dem neunzehnten Jahrhundert etwas auf, oder ich entdecke, beim ständigen Blättern in einer Publikation, von der ich glaubte, ich hätte ihr längst alle Geheimnisse entrissen, ein winziges Fragment, das ich damals übersehen habe.
    An einem Tag, an dem Max bei uns in Sceaux war und sich nach dem Mittagessen schlafen gelegt hatte, ging ich im Kopf die zahllosen Vorlagen für die Collagen durch, die bei mir im Keller lagerten. Kurze Zeit danach steigerte sich diese Suche zu einer Halluzination. Es war im Sommer, und ich war allein im Haus. Nachts konnte ich nur schlecht schlafen. Plötzlich hörte ich einen metallenen, gläsernen Lärm. Er kam aus dem Souterrain. Vorsichtig wagte ich mich nach unten und entdeckte, dass in der leeren Garage mitten auf dem Boden die Scherben eines großen Marmeladenglases lagen. Lange konnte ich mich nicht von der Stelle regen. Es war absolut rätselhaft. Ich hatte dafür keine Erklärung, und ich suchte auch keine. Auf einmal fiel mein Auge, innerhalb der vollständigen Sammlung der Revue Magasin pittoresque , auf einen einzelnen Band. Ich weiß nicht, warum. Ich zog ihn hervor und schlug zufällig die Seite auf, die einen Stich nach dem berühmten »Dornauszieher« im Konservatorenpalast in Rom zeigte. Irgendwie forderte mich die Darstellung heraus. Wie immer verfolgte ich den Verlauf der Silhouette und versuchte vom Inhalt abzusehen. Schlagartig spürte ich, dass ich hier fündig werden könnte. Ich ließ alle Collagen Revue passieren, in denen Max Ernst Umrisslinien von nackten Figuren verwendet hatte. Dann fiel der Groschen: Auf dem Umschlag der Sondernummer, die die Cahiers d’Art 1937 dem Künstler gewidmet hatten, tauchte etwas Ähnliches auf. Und in der Tat fand ich schnell heraus, dass Max Ernst den Holzstich aus dem Magasin pittoresque so ausgeschnitten hatte,

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