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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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einem lukullischen Ausschlürfen des Materiellen kompensierte, hatte in Dichtern wie Francis Ponge die wichtigsten literarischen Begleiter gefunden. Das Reden über die Minima, die Präsentation des Schrundigen, das sich in den Texten vorzugsweise auf die Bildmaterialität bezog, betraf die eigene sprachliche Realität. Was für Sprachvirtuosen wie Ponge gilt, gilt auch für Tardieu, Paulhan, Michaux und nicht zuletzt für Beckett, der den Bildern der Brüder van Velde einige Seiten widmete. Die Texte dieser Schriftsteller übertreffen in ihrer Genauigkeit alle kunsthistorischen Kommentare der Zeit. In ihnen geht es um Übersehenes und Unterlebensgroßes, um Phantomatisches, das außerhalb dieser Auslegungen keine eigene Realität besitzt. Was sich in den Ateliers abspielte, hatte nichts mehr mit der Gigantomachie zu tun, die zwischen gegenständlicher und ungegenständlicher Welt den alles entscheidenden Unterschied machte. Das Informel und die Reduktion auf gegenständliche Reste, deren Liturgie die École de Paris definitiv festgeschrieben zu haben glaubte, werden ebenso wie das Actionpainting der New Yorker Schule mit einem Schlag in Frage gestellt. Die Schockwelle, die dabei ausgelöst wurde, erlebte ich in Paris hautnah mit. Die Neuen Realisten und die Generation der Pop-Künstler brüskierten so gut wie alle Ateliers.
    Nichts bezeichnet den Umschwung besser als Roland Barthes’ umfassende Beschäftigung mit den Mythen des Alltags . Der Hinweis auf den Alltag desakralisiert den Mythos. Anspielungen auf den Essentialismus, mit dem die Künstler des Informel hervortraten, sind aus den Texten Barthes’ völlig verschwunden. Für mich wurde er der Baudelaire der Stunde. Diese war dominiert von der Abkehr vom Natürlichen und von der Natur selbst. Und in diesem Sinne stoßen wir bei Barthes auf geradezu ekstatische Hymnen auf die Widernatur der modernen Großstadt. Ein Text Baudelaires erlaubt den Zugang zu diesem speziellen Verständnis von Künstlichkeit, das diesen Dichter genau wie Barthes lockte. Baudelaires »Lob der Schminke« ist eine tiefgehende Reflexion, in der das Schminken Zeichen für die Überwindung des Natürlichen und die Mode ein Mittel ist, um die mangelnde Phantasie der Natur zu überspielen. Wie bei Barthes geht es bei Baudelaire um die Ordnung von Unordnung. Kein System, so Baudelaire, kann eine Lösung anbieten: »Ein System ist eine Art Verdammung, die uns zu einer ewigen Verneinung zwingt; wir müssen stets ein neues finden.« Dies eröffnet den Zugang zur Relativität des Ästhetischen, die Barthes auf immer neue Weise vorführt. An die Stelle der Idee, des Singulars und des Prototyps tritt bei ihm die Massenware. Seine Beobachtungen setzen bei konkreten, verortbaren Objekten und Situationen ein. Was Barthes schrieb, faszinierte mich mehr als vieles andere. Immer wieder traf ich ihn in seiner Wohnung bei Saint-Sulpice, in der Rue Servandoni. Wir sprachen darüber, dass der Nouveau Roman kaum ins Bewusstsein der französischen Gesellschaft eingedrungen ist. In der Schule werden seine Autoren nicht behandelt, und an der Universität ist eine Beschäftigung mehr als selten. Barthes hoffte auf eine Universitätsreform, die solche strukturellen Schwächen beseitigen sollte. Dann würden auch Dispute, wie jener zwischen ihm und Raymond Picard, bei dem es um die Konfrontation von positivistischem Lansonismus und einer auf dem Strukturalismus basierenden Neuen Kritik ging, obsolet werden. In der Tat hat 1963 Barthes’ Aufsatzsammlung Sur Racine zu einer erregten Auseinandersetzung mit Picard geführt, der Barthes 1965 in seinem Pamphlet Nouvelle critique ou nouvelle imposture angriff. Bei jedem Besuch versprach mir Roland Barthes erneut einen Beitrag, und am 9. Juli 1963 schrieb er, er werde mir im kommenden Jahr einen ersten Text für Stuttgart übergeben, eine Arbeit mit dem provisorischen Titel »Die Franzosen und die Nahrung«. In der einen oder anderen Widmung eines Buches versicherte er mir jeweils erneut, dass er sein Versprechen nicht vergessen habe. Daraus wurde nichts, und plötzlich starb dieser anregende Mann mit seinem aufgeschlossenen, gewinnenden Wesen. Ein Lieferwagen hat ihn auf dem Weg zu seiner Vorlesung am Collège de France überfahren.
    Massenkultur und Tagesjournalismus waren es, die für Barthes und für alle, die ihn lasen, wichtig wurden. In der Hingabe an das mit schwindelerregender Scharfsinnigkeit in einer bestimmten Zeit verankerte Objekt klingen Stimmungen an, die

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