Mein Glueck
den Neuen Realisten zählten außer Christo Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely. Die Künstler, die ich im Umkreis dieser Gruppe kennenlernte, waren anders. Es gab bei ihnen keine Mystik der Materie, keinen Hinweis auf eine innere Notwendigkeit. Sie waren in gewissem Maße offener, gewandter. Durch die komplexe Realisierung ihrer Projekte auf Mitarbeiter angewiesen, waren sie außerdem weitaus umgänglicher. Jeder, der das Glück hatte, Niki de Saint Phalle zu kennen, war verzaubert von ihrem Wesen. Sie war im Umgang mit ihren Freunden richtiggehend magisch, sandte ihnen Widmungen, köstliche, mit kleinen Collagen und Abziehbildern dekorierte Briefe. Ebenso ihr Mann, Jean Tinguely, der ein richtiges Genie des Schriftlichen war. Das letzte Mal, als ich mit ihr zu tun hatte, lebte sie in Kalifornien. Ich sagte ihr am Telefon, dass wir im Centre Pompidou Schwierigkeiten hätten, ihre monumentale Skulptur »Waldaff« zu finden. Sie bekam daraufhin einen Lachanfall und meinte, auch wenn er in den Wald gegangen sei, sei der »Waldaff« groß genug, um ihn wieder zurückzufinden. Heute ist es selbstverständlich, Niki einen bedeutenden Platz in der Kunst der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einzuräumen. Sie war nicht einfach nur die Muse der Nouveaux Réalistes in Frankreich, sie war eine Hauptdarstellerin in dem ungeheuren Stück Kunstgeschichte, das sie und ihre Freunde aufführten. Die Erinnerung an diese intelligente, sensible, verführerische Frau bleibt untrennbar mit der an Jean Tinguely verbunden. Beide bildeten ein exzeptionelles, bewundertes Künstlerpaar. Sie arbeiteten auf Augenhöhe, in gegenseitigem Respekt. Und sie waren stolz aufeinander. Niki mochte sehr unseren Sohn Patrick. Sie schickte ihm Briefe mit Collagen, und Jean tauchte am Morgen auf dem Weg vom Flughafen Orly in die Stadt in unserem Haus auf, blieb Stunden und reparierte alles, was ihm reparatur- oder veränderungswürdig erschien.
Die Art und Weise, wie sie einen in Soisy-sur-École am Waldrand von Fontainebleau empfingen, hatte etwas Berührendes. Dort hatte sich das Paar 1963 in einer ehemaligen Gastwirtschaft niedergelassen. Und es war immer ein Glück und ein Erlebnis, mit Niki und Jean zusammen zu sein. Unprätentiös und voller Freundschaft war der Umgang mit ihnen. Bei den Treffen war es selbstverständlich, dass ihre Mitarbeiter mit am Tisch saßen. Und bei aller Harmonie blieben beide doch in dem, was sie machten, unabhängig, ja meilenweit voneinander entfernt. Das zeigen am besten Gemeinschaftsarbeiten wie der Strawinsky-Brunnen vor dem Centre Pompidou, aber auch gemeinsame politische Protestaktionen, wie die in der Wüste Nevadas, bei der sie 1962 einen Verwüstungsfeldzug gegen die Atomversuche inszenierten. Auf der einen Seite Mechanik, Motoren, klingende Härte des Metalls, Ironie, Karambolagen mit dem Nichts, auf der anderen Seite Textilien, biomorphe, weiche, weibliche Formen und eine bittere Auseinandersetzung mit einer unheilbaren Verletzung, die bei Niki in die frühe Jugend zurückreicht. Die Schießbilder, mit denen die junge Künstlerin Furore machte, bleiben mehr als Beiträge zu der damals hoch gehandelten Einbindung des Publikums, zur Geschichte des Happenings. Es sind apotropäische Spuren eines Jagdzaubers, der das Böse und Gemeine bannen soll. Immer wieder traf ich beide in der Nähe ihres Hauses. Dort, im Wald, errichteten sie, unbeobachtet, zusammen mit Freunden und Weggefährten einen riesigen, zweiundzwanzig Meter hohen Zyklopen. Mehr als zwanzig Jahre lang werkelte Tinguely zusammen mit einem eidgenössischen Kerntrupp an dem Ungetüm aus Metall und Zement. Etwas Wildes, Nichtdomestiziertes, eine Mischung aus Räuberlager, Robinsonade und Hohem Lied in erheiterndem Leerlauf war in den Wald eingezogen. Eine Traumvorstellung schreckt plötzlich den Wanderer im Gehölz auf. Man erinnert sich an das riesige Schiff, das Werner Herzogs Abenteurer Fitzcarraldo im Urwald über den Berg schleppen lässt. André Breton hat in L’amour fou das Urbild dieser Verfremdung festgehalten. Er beschreibt die Fotografie einer Lokomotive, die im Laufe der Jahre vom Delirium des Dschungels überwuchert wurde. Was Tinguely im Wald, in der Nähe der friedlichen Schlupfwinkel der Maler der Schule von Barbizon, errichtet hat, ist ein ausgeklügelter Bruch mit Kausalität und Zweckdenken. Wasser strömt über die silberne, glitschige Rutschbahn in ein Brunnenbecken. Es giftet im Wald. Was hier entstand, entstand ohne
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