Mein Glueck
den Ateliers und Denkstuben steckt. Das »Ich« Martereaus kann nur so lange existieren, solange die Lüge existiert. Nathalie Sarrautes Literatur macht deutlich, das selbstgewisse, abgegrenzte Ich ist unrettbar. In all ihren Büchern steckt etwas Unentrinnbares, so als enthielten sie die aufgestockte Zeit des Jahrhunderts. Wo soll man diese bis ins letzte Detail komponierten, konzentrierten und fordernden Romane und Stücke einordnen? Sie gehörten in den Jahren, da sie erstmals auftauchten, sicherlich zu den verblüffendsten Leistungen des Schreibens. Doch Kategorien wie Nouveau Roman helfen nicht weiter. Sie manipulieren den tieferen Ansatz und bringen allenfalls Rezepte hervor, die in den fünfziger und sechziger Jahren überall als Wege einer autistischen Poetik auftauchten. Sehr schnell hatte die »Recherche« von Nathalie Sarraute eine Dimension der Wahrheit und der Offenlegung erreicht, die wir sonst allenfalls aus der Bekenntnisliteratur kennen. Man geht nicht fehl, wenn man den Begriff der Proust’schen »recherche«, der »Suche«, auch auf das Werk von Nathalie Sarraute anwendet. Dieses findet auf verständige Weise den ihm angemessenen Platz in der neueren Literaturgeschichte. Es bekennt sich zunächst einmal zu einer Tradition. Die Referenzen Dostojewski, Proust und Kafka hat die Autorin selbst in einigen Essays im Band L’ère du soupçon unterstrichen. Was sie dazu anmerkt, hilft, das Werk aus einer bewussten Distanz zu fassen. Enfance ist ein unerwartetes, ein nicht erhofftes Buch, weil Nathalie Sarraute nie eine Geschichtenerzählerin war und allem Persönlichen voller Misstrauen aus dem Weg ging. Die Erklärungsmuster Freuds kamen für sie nicht in Frage. Sie waren für sie nur aufklärerisch und antifeministisch. Was kann man über ein Schreiben sagen, das alles Sagen in sich aufgesogen hat, das zu den Stimmen des Jahrhunderts gehört? Es ist unmöglich für mich, all die Begegnungen und die Faszinationen, denen ich ausgesetzt war, zu klassifizieren und zu bewerten. Aber Nathalie gegenüber empfinde ich eine aus Zärtlichkeit und Unruhe gemischte Dankbarkeit. Es gibt kaum ein anderes Werk – abgesehen von Tschechow, Proust und Kafka –, das eine so vehemente Wirkung ausübt. Der schwankende Boden, auf den sie uns setzt, ist eine wichtige Lebenserfahrung. Und ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass jemand ohne diese Erfahrung auskommen kann, auskommen darf. Deshalb war es für mich eine schlimme, unerträgliche Nachricht, als mir Erika Tophoven, die, zusammen mit ihrem Mann Elmar, das Werk von Nathalie Sarraute übertragen hatte, mir vor zwei Jahren mitteilte, dass der deutsche Verlag, Kiepenheuer & Witsch, die Rechte an den Übersetzungen zurückgegeben habe. Die Tatsache, dass Autoren, die sich vielleicht nicht besonders gut verkaufen, plötzlich durch die Hörspiele eine große Bekanntheit erlangten, hatte die Kiepenheuers damals natürlich auf Nathalie Sarraute aufmerksam gemacht. Die Hörspiele machten das Werk attraktiver. Ich hatte zuvor Suhrkamp vorgeschlagen, Sarraute unbedingt in den Verlag aufzunehmen. Boehlich war selbstverständlich dafür, aber Unseld wollte nicht. Vielleicht auch, weil er dachte, dies könnte Beckett irgendwie kränken.
Während der Vorbereitung der Festschrift Kahnweiler begegnete ich erstmals Francis Ponge. Sein kahler Schädel ließ das Gesicht wie ein strenges, wuchtig geschnittenes römisches Porträt erscheinen. Nur die Fotografie konnte diesen Eindruck auf perfekte Weise einfangen. Und zwar eine Fotografie à la Nadar. Izis, dem wir die eindrucksvollste Aufnahme verdanken, ließ Ponge eine streng symmetrische Haltung einnehmen und zwang ihn, während einer zehn Sekunden langen Belichtungszeit stillzuhalten. Das Resultat ist außerordentlich, charakterisiert den Mann auf einzigartige Weise. Eine unglaubliche Härte und Starre kommt zum Ausdruck. Das Fleisch wirkt wie Granit, dem auch die lang nagende Zeit nichts anhaben kann. Ponge galt als einer der ganz Großen unter den Schriftstellern. Auch er selber war ganz und gar davon überzeugt. Als ich zum ersten Mal zu ihm ins Haus Nr. 35 der Rue Lhomond hinter dem Pantheon kam, fackelte er nicht lang und verkündete, nachdem ich ihm gegenüber auf einem Stuhl hatte Platz nehmen dürfen: »Sie sitzen vor einem Dichter, der den Nobelpreis erhalten wird.« Mich beeindruckte dies ungemein, und auch die Verehrung, die ihm die Gruppe der jungen Schriftsteller um Tel Quel entgegenbrachte, ließ mich nicht daran
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