Mein Glueck
am Individuum. Sie zielt auf mehr als die Zerstörung von Statussymbolen, mit denen sich die Proteste vorrangig abgaben. Sie zermalmt unseren Glauben ans Wort, indem sie in Les Fruits d’or aufzeigt, dass dieses Wort käuflich ist, dass wir uns nicht auf Parolen, die von Individuen propagiert und gedeckt werden, verlassen können. Ich traf damals niemanden, der so skeptisch und argwöhnisch wie Nathalie Sarraute dem Geschehen auf der Straße gegenüberstand. Dahinter stand nicht zuletzt das, was sie 1917 in Russland erlebt hatte. Die brillanten Inventare von Eigenheiten, Stereotypen und Objekten, die auf den Seiten ihrer Bücher angelegt werden, dienen dazu, jene »mörderische Intimität«, von der Hannah Arendt spricht, hervorzubringen. So erhält ihre alptraumhafte Welt den nötigen Resonanzboden. Auch Martereau, den die Autorin im gleichnamigen Roman zunächst wie eine Lichtgestalt auftreten lässt, als »anständige«, »einfache«, »reine« Figur mit klaren Verhaltensmustern, fällt einer banalen triebhaften Gier zum Opfer. Ein Echo von Balzac ist hier spürbar. Die auf den ersten Blick so bewundernswerte Erscheinung des »gesunden« Martereau verfügt denn auch, im Unterschied zu den anderen Figuren, in deren Kreis er eintritt, über ein »Ich«. Dieses »Ich« ist trügerisch, und hinter Sarrautes Kritik am Ich versteckt sich – dies merkt der Leser rasch – die Ablehnung eines rechthaberischen auktorialen Erzählers. Die Accessoires, die den Charakter von Martereau charakterisieren, beginnen sich unter unseren Augen zu desintegrieren.
Der Strukturalismus hatte verlangt, bei der Beschäftigung mit literarischen und künstlerischen Œuvres das Biographische als etwas Kontingentes abzutun. Die meisten Arbeiten, die damals entstehen, suchen denn auch, die auktoriale Position des Künstlers oder Schriftstellers und damit die biographisch bedingte Verwundbarkeit und Einsamkeit aufzugeben. Hundert Jahre nachdem Nietzsche Gott einen Totenschein ausgestellt hatte, schien die Zeit gekommen, nun auch das definitive Ende des Autors oder Künstlers zu verkünden. Überall treten Werke in den Vordergrund, die gegen Privates und eindeutig Erkennbares so stark imprägniert sind, dass Meinung und Empfindlichkeiten an ihnen abgleiten müssen. An die Stelle des erkennbaren subjektiven Werkes tritt die Phänomenologie von Strukturen, die ihre Durchschlagskraft einer überindividuellen Legitimität verdanken.
Das beeindruckte mich. In dem, was ich schreibe, spielt das Biographische und Narrative, das sich an das Leben hält, im Grunde eine untergeordnete Rolle. Die Möglichkeit, die ich immer hatte, in die Ecken zu schauen – nicht nur in die feuchten Ecken, sondern in die Ecken bei den Künstlern, um dort Verborgenes zu entdecken, hielt ich im Zaum. Dennoch ist es unglaublich, wie man durch die Begegnung mit Menschen stimuliert wird. Nach meinem »ersten Mal« – meinem ersten Besuch bei Beckett – kam ich zu der Überzeugung, dass ich die ganze Lektüre, die ich bisher in mir trug, völlig neu beginnen musste. Und auch die Begegnungen mit Picasso, mit Max Ernst führten dazu, dass ich den Blick auf den Tatort in mich aufsog und versuchte, einen anderen Zugang zu diesen Künstlern und Schriftstellern zu schaffen. Der Nouveau Roman war für mich das Exempel, wie man »distance« halten soll. Die Art und Weise wie Nathalie Sarraute den Menschen, wie Robert Pinget ein Objekt oder Michel Butor ein Wohnsilo beschrieben, lehrte, eine Distanz zu sich selbst und zu den Dingen einzuführen.
Doch inmitten der strukturalistischen Tätigkeiten, die in Frankreich von den autoritären Hungerkünstlern der Gruppe Support-Surface unternommen wurden, treten mit Sophie Calle und den Konstrukteuren privater Mythen das Biographische und die Identitätssuche wieder in den Vordergrund. Es handelt sich hier um einen erkennbaren Einschnitt in der Kunstgeschichte. Denn vieles von dem, was die Ateliers heute bestimmt, lässt sich auf Sophie Calle und ihre Mitstreiter zurückführen. Ihr geht es um die Beschattung des einzelnen, in einer virtuellen Autobiographie abgesicherten Menschen. Alles, was sie bei anderen erkundet, bleibt auf die eigene Erfahrung bezogen. In sie gräbt sie, Linderung durch Schmerz suchend, ihre scharfen, blutigen Fingernägel. Dafür bildet der Zyklus Douleur exquise, eine Weltreise durch den Schmerz, ein beeindruckendes Beispiel. Ich bin überzeugt, dass das Vorbild Nathalie Sarrautes hinter all diesen Sinneswandeln in
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