Mein Herz ruft deinen Namen
war ihr ununterbrochenes Schniefen. Schon als sie aus dem Auto gestiegen war, hatte sie feuchte Augen, und schon bei den ersten Klängen des Hochzeitsmarsches hatte sich diese Feuchte in ein unaufhaltsames Weinen verwandelt, das mich schrecklich störte. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und gesagt: »Schluss jetzt! Hör auf! Da gibt’s nichts zu weinen!«
Ich muss dir gestehen, dass ich zerstreut »Ja« gesagt habe. Erst als ich dir den Ring an den Finger steckte, wich meine Stumpfheit auf einmal – auf deinem Gesicht leuchtete ein außergewöhnliches Licht. Bis dahin war mir nie aufgefallen, wie glatt, wie fein deine Haut war, nie hatte ich bemerkt, dass eine Sonne in dir war und dass diese Sonne ungehindert aus deinen Augen strahlte.
Zu jenem ersten Verstoß gegen unsere Abmachung – uns nie etwas vorzuwerfen – kam es, einige Monate bevor Davide gezeugt wurde. Die Schwangerschaft katapultierte uns in eine neue Welt, und vielleicht ereigneten sich deshalb keine Zusammenstöße dieser Tragweite mehr. Dennoch hat dich dieser erste – und einzige – Fehltritt meinerseits tagelang beschäftigt. »Wenn man sich Vorwürfe macht«, wiederholtest du, verstört durch die Wohnung wandernd, »ist man in der Beziehung nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt – du, ich und der Wurm, der begonnen hat, an unserer Geschichte zu nagen. In der Materie verborgen, arbeiten die Würmer in aller Stille«, sagtest du, »jahrelang höhlen sie Gänge aus, und abgesehen von wenigen winzigen Anzeichen merkst du nichts. Dann stellst du eines Tages eine Tasse auf den Tisch, und das Holz gibt nach, bricht ein, im Nu verwandelt sich die feste Fläche, die du kanntest, in einen Haufen weiches Sägemehl.«
In all den Jahren, während ich an dich dachte und den Geschichten der Leute lauschte, die hier heraufkommen, ist mir bewusst geworden, dass es nichts Schwierigeres gibt, als nebeneinanderzugehen. Erinnerst du dich an unsere Bergtouren? Seite an Seite brachen wir auf, dann, irgendwann, ließ ich dich unwillkürlich hinter mir und ging voraus. Ich verlangsamte erst, wenn ich dich rufen hörte: »Ich habe es satt, mit deinem Rücken zu sprechen!« Dann ging ich wieder neben dir und strengte mich an, meinen Schritt dem deinen anzupassen. »Langsam …«, mahntest du mich immer wieder. »Was kann ich dafür, dass ich längere Beine habe als du?«, erwiderte ich dann.
So ist es auch mit den Begegnungen; an einem bestimmten Punkt des Lebens sieht man sich, fühlt sich angezogen, ist überzeugt, füreinander geschaffen zu sein, und genau diese Empfindung lässt die Beziehung enger werden. Anfangs denkt man, diese Überzeugung besitze die gleiche Kohäsionskraft wie Zement, erst mit der Zeit wird uns klar, dass das, was uns zusammenhält, nachgibt wie ein Gummiband. Es gab ein ›du‹ vor mir und ein ›ich‹ vor dir, und dieses ›du‹ und dieses ›ich‹ waren unterschiedliche Wege gegangen, und häufig sind es gerade diese Wege, die einen irgendwann wieder unwiderstehlich verlocken. Für die Außergewöhnlichkeit, die du in unserem Alltagsleben erkanntest, blieb ich relativ blind. Sie amüsierte mich, lenkte mich ab, ich nutzte das Licht, das du mir schicktest, doch nie, nicht einen einzigen Augenblick, dachte ich darüber nach, dass ich meinen Schritt irgendwie mit dem deinen in Einklang bringen müsste. Wir waren verschieden, und es schien mir wichtig zu sein, diese Verschiedenheit zu erhalten. Ich hatte meine Individualität und du deine – sich nicht gegenseitig auszulöschen empfand ich als ein Zeichen von Reife. Erst nach und nach, erst als ich allein geblieben war, begriff ich, dass Sichauslöschen und Nebeneinandergehen zwei gänzlich verschiedene Dinge sind.
Trotz deiner scheinbaren Zerbrechlichkeit besaßest du eine innere Reife, die meiner weit überlegen war. Ich hatte die Gewissheit der praktischen Dinge, und diese Gewissheit grenzte manchmal an Arroganz. Du dagegen bewegtest dich mit Leichtigkeit, doch ohne jede Spur von Unentschlossenheit. Obwohl du zerstreut wirktest, wusstest du genau, wohin du wolltest. Um dir wirklich zuzuhören, hätte ich demütig sein müssen – ein Gefühl, das ich damals noch nicht kannte.
Deshalb überrasche ich mich oft bei dem Gedanken – viele Jahre nachdem ihr mich verlassen hattet –, dass sich unsere Wege wahrscheinlich eines Tages getrennt hätten. Du wärst mit deinem regelmäßigen Schritt weiter auf das Ziel zugegangen – die Zuflucht, den Gipfel, den Polarstern,
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