Mein Herz ruft deinen Namen
wiegen, man kann sie nicht kaufen, sie entzieht sich jedem Manipulationsversuch. Deshalb stellen wir uns lieber vor, es gäbe sie nicht, man könne auch ohne sie auskommen.«
Während Flora sprach, sprang ihr eine getigerte Katze mit smaragdgrünen Augen auf den Schoß. Sie streichelte sie und sprach weiter. »Du sieht jetzt diese Katze, Uriel. Du siehst ihren Körper, aber ihr Körper ist nicht die einzige Realität. Neben dem Fell, den Schnurrhaaren, dem Schwanz lebt noch ein anderes Wesen, ein Lichtwesen.«
Ich trieb orientierungslos dahin, hatte Angst loszulassen, und deshalb, um sie wieder auf mein Terrain zu lotsen, fragte ich: »Gibt es auch Lichtmäuse?«
»Mäuse? Selbstverständlich, Mäuse, Schmetterlinge, Grashalme. Jedes kleinste Stückchen Materie enthält einen Funken Licht – was wir nicht sehen, was wir nicht verstehen, ist der große goldene Strom, der neben unseren Tagen fließt.«
»Und dort sind die Toten?«
Uriel streckte sich und sprang zu Boden. »Tote gibt es nicht«, erwiderte Flora, »es gibt nur eine andere Art, lebendig zu sein.« Dann schloss sie die Augen und schwieg eine Zeit lang, die mir endlos vorkam. Der Wasserhahn in der Küche tropfte, und von der Straße drang gedämpft der Lärm des Karnevalstreibens herauf. Als sie wieder aufschaute, hatte ihr Blick eine andere Intensität.
»Manche Leute glauben«, sagte sie, »dass ich eine Art Telefonleitung bin. Sie wollen mit ihren Lieben sprechen, als ob sie einen Hörer in der Hand hielten. Aber du bist nicht so … du … du hast eine Frage.«
»Alle haben wir Fragen.«
»Du hast eine Frage … an Nora. Eine einzige … die ist wie ein Holzwurm, der an deinem Herzen nagt …«
»Ja«, murmelte ich besiegt, »so ist es.«
»Ich versuche jetzt, mit ihr in Kontakt zu treten, und du stellst deine Frage, aber nicht laut. Du wiederholst sie innerlich und denkst dabei, dass Nora vor dir sitzt.«
Nach diesen Worten schloss sie erneut die Augen, und ihr Körper begann leicht zu zittern, als litte sie an beginnendem Parkinson.
Ich war ratlos, schwankte unentschlossen.
Was sollte ich tun?
Das Spiel mitspielen?
War es denn wirklich ein Spiel?
Und was riskierte ich, wenn ich mitspielte? Niemand würde es je erfahren, ich würde es einfach in meinem Gedächtnis speichern als einen letzten Karnevalstag, an dem ich es bunter getrieben hatte als an allen anderen.
So schloss auch ich die Augen und versuchte, dich mir vorzustellen. Als Erstes sah ich das Feuer vor mir, daraus materialisierte sich unsere erste Begegnung – die mit dem Croissant und deinem mit Puderzucker bestäubten Gesicht –, dann gleich danach saßest du auf dem Sofa und stilltest Davide … ein Reigen unterschiedlicher Erinnerungen begann hinter meinen geschlossenen Augen vorbeizuziehen … dann auf einmal verblassten die Bilder, und der Monitor hinter den Augenlidern wurde dunkel … in dieser Dunkelheit begann ich, einen Geruch wahrzunehmen. Deinen Geruch – den Geruch, den ich jeden Morgen einatmete, wenn du neben mir im Bett erwachtest.
War das ein Zeichen, oder handelte es sich nur um Suggestion?
Mein Herz schlug jedenfalls schneller – nun sah ich deutlich dein Gesicht, den glücklichen, verschlafenen Ausdruck, mit dem du dich dehntest, wenn du den Wecker abgestellt hattest. Du warst da, so wirkte es zumindest. Genau in dem Augenblick murmelte Flora mit einer Stimme, die von weit her zu kommen schien: »Aha … wir sind so weit …« Inzwischen war mein Herzschlag völlig ausgerastet.
»Hast du dich wirklich umgebracht?«, fragte ich dich.
Als ich das Haus des Mediums verließ, war es inzwischen dunkel geworden auf den Straßen der Hauptstadt. Anstatt heimzugehen, mischte ich mich unter die kostümierte Menge. Auf dem Campo de’ Fiori kam ein Mädchen auf mich zu und hielt mir eine Zorro-Maske hin. Ich nahm sie, setzte sie auf und begann, damit von einer Bar zur anderen zu ziehen, bis mich der Sonnenaufgang schlafend auf den Stufen der Kirche Sant’ Agostino überraschte.
Als ich erwachte, wusste ich vom Tag vorher so gut wie nichts mehr, nur der letzte Satz, den das Medium zu mir gesagt hatte, als ich schon auf der Treppe stand, war mir im Gedächtnis haften geblieben: »Denken Sie an die Maus!«
Auf einem Teppich aus Konfetti und Papierschlangen ging ich zur Bushaltestelle. Zu Hause habe ich mir das Gesicht gewaschen und bin absolut pünktlich zur Arbeit gekommen. Während der Visite hat sich eine Kollegin genähert und mir ein
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