Mein Herz so weiß
Maßnahmen ergreifen, die beide nutzlos sind, fragen und schweigen. Wenn man fragt und zwingt, dann hört man vielleicht ›Ich bin es nicht gewesen‹, und man wird auf das achten müssen, was
nicht gesagt
wird, auf den Ton, auf die ausweichenden Augen, auf das Vibrieren der Stimme, auf die vielleicht vorgespielte Überraschung und Empörung; und man wird die Frage nicht noch einmal stellen können. Wenn man schweigt, wird diese Frage immer unversehrt und bereit sein, obwohl die Zeit sie zuweilen unpassend und fast unaussprechlich werden lässt, buchstäblich unzeitgemäß, so als würde alles am Ende verfallen und ein Lächeln bewirken, wenn es zur vergangenen Zeit gehört, die ganze Vergangenheit erscheint verzeihlich und harmlos. Wenn man schweigt, muss man den Verdacht zerstreuen und die Frage abschaffen oder aber Ersteren nähren und Letztere mit äußerster Sorgfalt vorbereiten, es ist unmöglich, den Verdacht zu bestätigen, niemand weiß etwas von dem, was er nicht selbst erlebt hat, nicht einmal den Geständnissen kann man Glauben schenken, in der Schule sagt man ›Ich bin es gewesen‹, wenn man es nicht gewesen ist, die Menschen lügen ebenso wie sie sterben, es scheint unglaublich, aber nie kann man irgendetwas wissen. Jedenfalls glaube ich das. Deshalb ist es bisweilen besser, nicht einmal den Anfang zu kennen noch die Stimmen zu hören, die erzählen und vor denen man so wehrlos ist, die Erzähler-Stimmen, die wir alle haben und die in die ferne oder nahe Vergangenheit zurückgreifen und Geheimnisse aufdecken, die nicht mehr wichtig sind und dennoch das Leben oder die künftigen Jahre, unser Wissen von der Welt und von den Menschen beeinflussen, man kann niemandem trauen, nachdem man sie gehört hat, alles ist möglich, die größte Ruchlosigkeit und die größte Gemeinheit bei den Menschen, die wir kennen, wie bei uns selbst. Und jeder ist damit beschäftigt, unaufhörlich zu erzählen und unaufhörlich zu verbergen, während er Ersteres tut, nur das, was man nicht sagt, wird weder erzählt noch verborgen. Deshalb verwandelt sich in Geheimnis, was man nicht erzählt, und bisweilen kommt der Tag, an dem es schließlich erzählt wird.
Ich sagte nichts, ich fragte nicht und habe noch immer nicht gefragt, je mehr Zeit vergeht, umso unwahrscheinlicher und schwieriger wird es, dass ich es tue. Man lässt einen Tag vorbeigehen, ohne zu sprechen, und zwei, und eine Woche, dann akkumulieren sich unmerklich die Monate, und die Äußerung des Verdachts wird aufgeschoben, wenn dieser nicht stärker wird, vielleicht wartet man, dass auch er sich in Vergangenheit verwandelt, in etwas Verzeihliches oder Harmloses, das uns vielleicht lächeln lässt. Etliche Tage lang schaute ich aus dem Fenster, bevor ich zu Bett ging, von meinem Arbeitszimmer aus, zur Ecke, nach unten; aber Custardoy erschien dort nicht wieder in den folgenden Nächten, und das nächste Mal sah ich ihn in meiner eigenen Wohnung, oben, einen Augenblick lang. Mein Vater war gegen halb neun gekommen, um mit mir und Luisa etwas zu trinken, bevor er zu ich weiß nicht was für einem Abendessen gehen würde, zu dem Custardoy ihn einlud, und deshalb kam der Jüngere ihn abholen, als es schon kurz vor zehn war. Er setzte sich ein paar Minuten hin, trank rasch ein Bier, und ich bemerkte nichts, eine minimale, noch junge Vertrautheit zwischen Custardoy und Luisa, aber vermittelt durch meinen Vater, sie hatten sich während meiner Abwesenheit über ihn kennengelernt, er war die zwei oder drei Male dabei gewesen, das war alles, oder so schien es mir. Sehr viel mehr Vertrautheit gab es zwischen Ranz und Luisa, sie hatten sich durchaus allein und oft gesehen, mein Vater hatte sie bei ihren Einkäufen für die künstliche Wohnung begleitet, er hatte sie zum Mittag- und zum Abendessen ausgeführt, er hatte sie beraten (ein Mann mit Geschmack, ein Experte in Kunst), es war offensichtlich, dass sie einander schätzten, jeder amüsierte sich mit dem anderen. Mein Vater erzählte von Kuba bei jenem Besuch, aber das war nichts Außergewöhnliches bei ihm, mehr noch, er sprach oft von diesem Land, seine Kontakte mit ihm waren nicht spärlich gewesen, angefangen bei seiner Ehe mit den beiden Töchtern einer Mutter aus Havanna bis hin zu einigen bemerkenswerten Transaktionen, über die ich Bescheid wusste. Er war im Dezember 1958 dort gewesen, Wochen vor Batistas Sturz: da er kommen sah, was geschehen würde (und da die Besitzer es kommen sahen), hatte er den Familien,
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