Mein Herz so weiß
oder vorbeigehen lassen, identisch mit dem, was wir nehmen und ergreifen, was wir erfahren, identisch mit dem, was wir nicht ausprobieren, und doch geht es um unser Leben und vergeht unser Leben damit, dass wir auswählen und ablehnen und entscheiden, dass wir eine Linie ziehen, welche diese identischen Dinge trennt und aus unserer Geschichte eine einzigartige Geschichte macht, an die wir uns erinnern und die sich erzählen lässt. Wir verwenden unsere ganze Intelligenz und unsere Sinne und unser Bestreben auf die Aufgabe, zu unterscheiden, was eingeebnet wird oder es schon ist, und deshalb sind wir reich an Reuegefühlen und verpassten Gelegenheiten, an Bestätigungen und Bekräftigungen und genutzten Gelegenheiten, wo es doch so ist, dass nichts Bestand hat und alles verlorengeht. Oder womöglich hat es nie etwas gegeben.
Vielleicht fiel nicht ein einziges Wort zwischen Miriam und dem Mann während der ganzen Zeit, da ich die Worte zu verpassen meinte. Vielleicht schauten sie sich nur an oder umarmten sich stumm im Stehen oder traten an das Bett heran, um sich auszuziehen, oder vielleicht beschränkte sie sich darauf, die Schuhe abzustreifen, und zeigte dem Mann ihre Füße, die sie bestimmt sorgfältig gewaschen hatte, bevor sie das Haus verließ, und die jetzt gewiss müde waren und schmerzten (die Sohle des einen vom Pflaster beschmutzt). Vermutlich ohrfeigten sie einander nicht und gerieten sich auch nicht in die Haare oder etwas Ähnliches (ich meine eine handgreifliche Auseinandersetzung), denn dabei keucht man sofort heftig und schreit, entweder kurz vorher oder danach. Vielleicht war Miriam wie ich ins Badezimmer gegangen (aber ich tat es für Luisa und ging hinein und wieder hinaus) und hatte sich während jener Minuten dort eingeschlossen, ohne etwas zu sagen, um sich anzuschauen und ihre Fassung zurückzugewinnen und nach Möglichkeit aus ihrem Gesicht die Spuren des Zorns und der Müdigkeit und der Enttäuschung und der Erleichterung zu tilgen, die sich akkumuliert hatten, während sie sich fragte, welcher Ausdruck am angemessensten und vorteilhaftesten wäre, um endlich dem linkshändigen Mann mit den behaarten Armen gegenüberzutreten, der Vergnügen oder Zeitvertreib darin gefunden hatte, dass sie vergeblich wartete und mich mit ihm verwechselte. Vielleicht ließ sie ihn ein wenig warten, bei geschlossener Badezimmertür, oder aber sie wollte nichts anderes als heimlich und gedämpft weinen, auf dem Toilettendeckel oder dem Rand der Badewanne sitzend, nachdem sie sich die Haftschalen herausgenommen hatte, wenn sie welche trug, während sie sich mit einem Handtuch abtrocknete und vor ihren eigenen Augen verbarg, bis es ihr gelang, sich zu beruhigen, sich das Gesicht zu waschen, sich zu schminken und sich so weit in Gewalt zu haben, dass sie wieder herauskommen konnte, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Ich hatte es eilig, hören zu können, und deshalb war es nötig, dass Luisa wieder einschlief, dass sie aufhörte, körperlich und präsent zu sein, und zurücktrat und vage wurde, und es war nötig, dass ich mich ruhig hielt, um durch die Wand mit dem Spiegel oder durch die offene Balkontür oder stereophon durch beide zuhören zu können.
Ich spreche und verstehe und lese vier Sprachen einschließlich der meinen, und deshalb, vermute ich, habe ich teilweise als Übersetzer und Dolmetscher auf Kongressen, Versammlungen und Treffen gearbeitet, die vor allem politischer Natur waren und zuweilen auf höchster Ebene stattfanden (zweimal habe ich zwischen Staatschefs gedolmetscht; na ja, einer war nur Ministerpräsident). Ich vermute, dass ich deshalb dazu neige (ebenso wie Luisa, die dieselbe Tätigkeit ausübt, nur, dass wir nicht genau die gleichen Sprachen haben und sie weniger einen Beruf daraus macht oder weniger arbeitet, und deshalb ist sie bei ihr nicht so ausgeprägt),
alles
verstehen zu wollen, was gesagt wird und mir zu Ohren kommt, sowohl bei der Arbeit als auch außerhalb, sei es aus der Ferne, sei es in einer der zahllosen Sprachen, die ich nicht kenne, sei es auch in ununterscheidbarem Gemurmel oder unhörbarem Geflüster, sei es auch besser, dass ich es nicht verstehe, und auch wenn das, was gesagt wird, nicht gesagt wird, damit ich es höre, oder sogar genau deshalb gesagt wird, damit ich es nicht höre. Ich kann abschalten, aber nur in bestimmten Momenten, in denen mir nach Verantwortungslosigkeit zumute ist, oder mittels einer großen Anstrengung, und deshalb freue ich mich zuweilen,
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