Mein Herz so weiß
murmelte, die Stimme des Mannes.
»Ich sag dir doch, dass meine Frau im Sterben liegt.«
Miriam antwortete rasch, von der nämlichen Gereiztheit erfasst, in der sich beide, so berichtigte ich mich sofort, anscheinend ständig eingerichtet hatten, zumindest, wenn sie zusammen waren: ihre Sätze und der erste Satz des Mannes bildeten eine Gruppe, die ich plötzlich ohne nennenswerte Anstrengung verstand.
»Aber sie stirbt nicht. Sie liegt im Sterben, aber sie stirbt nicht, so geht das schon ein Jahr. Bring sie endlich um, du musst mich hier rausholen.«
Es folgte Stille, und ich wusste nicht, ob dies daran lag, dass er schwieg, oder ob er die Stimme noch mehr gesenkt hatte, um auf Miriams Bitte zu antworten, die vielleicht nicht gewohnheitsmäßig war.
»Was willst du, soll ich sie mit einem Kissen ersticken? Ich kann nicht mehr tun, als ich schon tue, und das ist nicht wenig. Ich lasse sie sterben. Ich tue nichts, um ihr zu helfen. Ich treibe sie dem Tod in die Arme. Ich entziehe ihr ein paar Medikamente, die der Arzt ihr verschreibt, ich höre nicht auf sie, ich behandle sie ohne die geringste Zuneigung, ich gebe ihr Anlass zu Ärger und Misstrauen, ich nehme ihr das bisschen Lebenslust, das ihr noch bleibt. Findest du das nicht genug? Es hat keinen Sinn, jetzt einen falschen Schritt zu tun, oder dass ich mich scheiden lasse, wir würden die Dinge mindestens ein Jahr verlängern, sterben kann sie dagegen jeden Augenblick. Schon heute kann sie tot sein. Begreifst du nicht, dass dieses Telefon genau jetzt klingeln und die Nachricht mich erreichen kann?« Der Mann machte eine Pause und fügte in einem anderen Ton hinzu, als sagte er es ungläubig und mit einem halben Lächeln, unfreiwillig: »Vielleicht ist sie schon tot. Sei nicht dumm. Sei nicht so ungeduldig.«
Die Frau hatte einen karibischen Akzent, vermutlich einen kubanischen, obwohl mein hauptsächlicher Anhaltspunkt in dieser Hinsicht (die Kubaner haben sich an den internationalen Treffen nicht sonderlich beteiligt) nach wie vor meine Großmutter ist, und meine Großmutter hatte Kuba im Jahre 1898 mit ihrer ganzen Familie und im Alter weniger Jahre verlassen; außerdem gab es, wie sie sagte, wenn sie sich an ihre Kindheit erinnerte, große Unterschiede zwischen den Akzenten der Insel. Sie zum Beispiel konnte die Akzente der Provinz Oriente und einen Bewohner Havannas und einen von Matanzas unterscheiden. Der Mann hingegen hatte meinen Akzent, ein Spanisch aus Spanien oder eher aus Madrid, neutral, korrekt, wie die Synchronsprecher der Filme es einst benutzten und ich es noch immer spreche. Jene Unterhaltung war fast routinemäßig, gewiss variierte sie nur in Einzelheiten, Miriam und der Mann hatten sie bestimmt schon tausendmal geführt. Aber für mich war sie neu.
»Ich bin nicht ungeduldig gewesen, ich war lange geduldig, und sie stirbt nicht. Du gibst ihr Anlass zu Ärger, aber von mir sagst du ihr nichts, und dieses Telefon klingelt nie. Wie soll ich wissen, dass sie stirbt? Wie soll ich wissen, dass das alles nicht Lüge ist? Ich habe sie nie gesehen, ich bin nie in Spanien gewesen, ich weiß nicht mal, ob du verheiratet bist oder alles nur ein Trick von dir ist. Manchmal glaube ich, deine Frau existiert überhaupt nicht.«
»Ach. Und meine Papiere? Und die Fotos?«, sagte der Mann. Sein Akzent war wie meiner, aber seine Stimme eine ganz andere. Meine ist tief, und seine war hoch, fast ein wenig schrill in ihrem Gemurmel. Sie wirkte nicht angemessen für einen behaarten Mann, eher für einen gebrechlichen Sänger, der sich nicht im Geringsten anstrengt, sein natürliches oder künstliches Timbre zu verändern, wenn er spricht, es ist schädlich, das zu tun. Seine Stimme war wie eine Säge.
»Was weiß ich, die Fotos! Sie können von deiner Schwester sein, von irgendjemandem, von deiner Geliebten, weiß ich, ob du noch eine hast? Und red du mir nicht von Papieren. Ich trau dir nicht mehr. Deine Frau stirbt seit einem Jahr immer am nächsten Tag, entweder sie stirbt endlich oder lass mich in Ruhe.«
Das war es mehr oder weniger, was sie sagten, soweit ich mich erinnere und es zu transkribieren weiß. Luisa schien eingenickt zu sein, und ich hatte mich ans Fußende des Bettes gesetzt, mit den Füßen auf dem Boden und geradem Rücken, ohne Stütze, und wachte über sie, ein wenig angespannt, um keinen Lärm zu machen (die Bettfedern, meine Atmung, meine eigene Kleidung). Ich sah mich im Spiegel der Trennwand, das heißt, ich sah mich, wenn ich mich
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