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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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anschaut, man hört auf, sie mit Aufmerksamkeit und Wohlgefallen zu betrachten, wenn sie erst einmal Teil der täglichen Landschaft sind. Seit dem Tod meiner Mutter ist auch ihr Foto da, zu Hause bei Ranz, größer, und außerdem hängt ein nicht postumes Porträt an der Wand, das Custardoy der Ältere von ihr angefertigt hat, als ich noch ein Kind war. Meine Mutter, Juana, ist heiterer, obwohl die beiden Schwestern sich etwas ähneln, der Hals und die Gesichtsform und das Kinn sind gleich. Meine Mutter lächelt auf ihrem Foto und lächelt auf dem Bild, auf beiden ist sie schon älter als ihre ältere Schwester auf ihrem kleinen Foto, in Wirklichkeit älter als Teresa je gewesen ist, die durch ihren Tod zweifellos zur jüngeren wurde, sogar ich bin älter als sie, der frühe Tod verjüngt. Meine Mutter lächelt fast wie sie lachte: sie lachte leicht, wie meine Großmutter; beide, ich sagte es schon, lachten bisweilen aus vollem Halse, wenn sie zusammen waren.
    Ich habe jedoch erst vor einigen Monaten erfahren, dass meine Tante Teresa, die nie meine Tante gewesen ist, sich umgebracht hat, kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise mit meinem eigenen Vater, und es war Custardoy der Jüngere, der es mir sagte. Er ist drei Jahre älter als ich, und ich kenne ihn seit meiner Kindheit, als drei Jahre viel waren, wenn ich ihm damals auch soweit wie möglich aus dem Weg ging und ihn erst als Erwachsener ertragen habe. Die Freundschaft oder die Geschäfte unserer Väter führten uns bisweilen zusammen, aber er stand immer den Erwachsenen näher, war interessierter an ihrer Welt, als könnte er es kaum abwarten, zu ihr zu gehören und frei zu handeln, in meiner Erinnerung ist er ein alt aussehender Junge oder ein verhinderter Erwachsener, ein Mann, dazu verurteilt, zu lange in einem unstimmigen Kinderkörper zu verharren, zu einem vergeblichen Warten gezwungen, das ihn verrückt machte. Nicht, dass er an den Unterhaltungen der Erwachsenen teilnahm, es fehlte ihm an Altklugheit – er hörte nur zu –, es war mehr eine dunkle Anspannung, die ihn beherrschte, unpassend für einen Jungen, die ihn ständig wachsam sein und aus dem Fenster schauen ließ, wie jemand, der die rasch vor seinen Augen dahinziehende Welt anschaut, auf die aufzuspringen ihm noch nicht erlaubt ist, wie der Gefangene, der weiß, dass niemand wartet oder sich etwas versagt, weil er nicht da ist, und dass mit der dahineilenden Welt auch
seine
Zeit vergeht; und das wissen auch jene, die sterben. Er machte immer den Eindruck, etwas zu versäumen und sich dessen schmerzhaft bewusst zu sein, er gehörte zu den Menschen, die am liebsten mehrere Leben zugleich leben würden, die sich vervielfältigen und nicht darauf beschränken möchten, nur sie selbst zu sein: zu denen, die Schrecken vor der Einheit empfinden. Wenn er zu uns nach Hause kam und in meiner Gesellschaft warten musste, bis der Besuch seines Vaters bei meinem beendet war, trat er an die Balkontür und wandte mir fünfzehn oder zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde lang den Rücken zu, ohne den verschiedenen Spielen Beachtung zu schenken, die ich ihm naiverweise vorschlug. Aber trotz ihrer Reglosigkeit drückte seine aufrechte Gestalt weder Kontemplation noch Ruhe aus, auch nicht seine knochigen Hände, die, nachdem sie die Vorhänge zur Seite geschoben hatten, sich an ihnen festklammerten, so wie der noch neue Gefangene sich an die Berührung der Gitterstäbe gewöhnt, weil er ihnen noch keinen Glauben schenkt. Ich spielte in seinem Rücken, wobei ich versuchte, seine Aufmerksamkeit nicht allzu sehr auf mich zu lenken, eingeschüchtert in meinem eigenen Zimmer, fast ohne einen Blick auf seinen ausrasierten Nacken und noch weniger auf seine Männeraugen, die begehrlich auf die Außenwelt blickten und sich danach sehnten, frei zu sehen und zu handeln. Letzteres schaffte er ein wenig, zumindest in dem Maße, in dem sein Vater ihm seit frühester Zeit das Handwerk des Kopisten und vielleicht des Bilderfälschers beibrachte und ihn für einige Arbeiten entlohnte, die er ihm in seinem Maleratelier übertrug. Deshalb besaß Custardoy der Jüngere mehr Geld als seine Altersgenossen, er verfügte über eine seltene Selbständigkeit, er verdiente sich nach und nach seinen Lebensunterhalt; er interessierte sich für die Straße und nicht für die Schule, mit dreizehn Jahren ging er schon zu Huren, und ich hatte immer ein wenig Angst vor ihm, sowohl der drei Jahre wegen, die er älter war und die ihn in

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