Mein Herz so weiß
Hinsicht über das Verschwinden gefreut haben. Ranz hatte niemals etwas erzählt. Vor einigen Jahren, als ich bereits erwachsen war, versuchte ich, ihn zu fragen, aber er behandelte mich, als wäre ich noch ein Kind. »Was geht dich das alles an«, sagte er und wechselte das Thema. Als ich insistierte (wir befanden uns im ›Dorada‹), stand er auf, um zur Toilette zu gehen, und sagte spöttisch und mit seinem schönsten Lächeln: »Hör mal, ich habe keine Lust, von der fernen Vergangenheit zu reden, das ist geschmacklos und erinnert einen an die vielen Jahre, die man auf dem Buckel hat. Wenn du weitermachen willst, dann ist es besser, dass du den Tisch verlassen hast, wenn ich wiederkomme. Ich will in Ruhe essen und zwar heute, nicht an einem Tag vor vierzig Jahren.« Als wären wir zu Hause und als wäre ich ein kleines Kind, das man in sein Zimmer schicken kann, sagte er mir, ich solle mich davonscheren, er zog nicht einmal die Möglichkeit in Betracht, böse zu werden und selber das Restaurant zu verlassen.
Jedenfalls hat fast niemand jemals von Teresa Aguilera gesprochen, und dieses
fast
ist überflüssig geworden seit dem Tod meiner kubanischen Großmutter, die sie als Einzige bisweilen erwähnte, wie unabsichtlich oder ohne es vermeiden zu können, obwohl Teresa bei ihr zu Hause sehr präsent und sichtbar war in Form eines postumen Porträts in Öl, das ausgehend von einer Fotografie angefertigt worden war. Und bei mir, das heißt bei Ranz zu Hause, gab und gibt es das Foto, das in Schwarzweiß als Modell diente, auf das Ranz und Juana dann und wann im Vorbeigehen einen Blick warfen. Teresas Gesicht ist ein zuversichtliches, ernstes Gesicht auf dieser Fotografie, eine hübsche Frau mit dünnen Augenbrauen, die eine einzige Linie bilden, und einem nicht sehr tiefen Grübchen im Kinn – eine Kerbe, ein Schatten –, das dunkle Haar im Nacken zusammengeschlungen und der Scheitel in der Mitte, der den spitzen Haaransatz betonte, der lange Hals, der große Frauenmund (aber ganz anders als der meines Vaters und mein eigener), die ebenfalls dunklen Augen sind weit offen und blicken ohne Misstrauen in das Objektiv, sie trägt diskrete Ohrringe, vielleicht aus Perlmutt, und die Lippen sind trotz ihrer Jugend geschminkt, wie es die Zeit, in der sie jung oder am Leben war, aus Anstand gebot. Ihre Haut ist sehr blass, ihre Hände sind verschränkt, die Arme auf einen Tisch gestützt, wohl eher der Esstisch als ein Arbeitstisch, obwohl man ihn nicht deutlich genug sieht, um es zu erkennen, und der Hintergrund ist verschwommen, vielleicht ist es eine Studioaufnahme. Sie trägt eine Bluse mit kurzen Ärmeln, möglicherweise war es Frühling oder Sommer, sie mag zwanzig Jahre alt sein, vielleicht weniger, vielleicht kannte sie Ranz noch nicht oder hatte ihn gerade kennengelernt. Sie war unverheiratet. Es gibt etwas an ihr, das mich
jetzt
an Luisa erinnert, obwohl ich dieses Foto viele Jahre lang gesehen habe, bevor Luisa existierte, alle Jahre meines Lebens außer den beiden letzten. Es mag daran liegen, dass man ein wenig überall den Menschen sieht, den man liebt und mit dem man zusammenlebt. Aber beide haben einen Ausdruck von Zuversicht, Teresa als Bild und Luisa ständig als Person, als fürchteten sie nichts, und nichts könnte sie je bedrohen, Luisa zumindest in wachem Zustand, wenn sie schläft, ist ihr Gesicht verletzbarer und ihr Körper scheint in größerer Gefahr. Luisa ist so zuversichtlich, dass sie in der ersten Nacht, die wir zusammen verbrachten, von Goldunzen träumte, wie sie mir erzählte. Sie wachte mitten in der Nacht durch meine Gegenwart auf, schaute mich leicht verwundert an, strich mir mit den Fingernägeln über die Wange und sagte: ›Ich habe von Goldunzen geträumt. Sie waren wie Fingernägel und glänzten ganz stark‹, nur jemand, der sehr unschuldig ist, kann so etwas träumen und vor allem es erzählen. Teresa Aguilera könnte in ihrer Hochzeitsnacht von diesen leuchtenden Goldunzen geträumt haben, so dachte ich, als ich ihr Bild bei Ranz zu Hause anschaute, nachdem ich Luisa kennengelernt und mit ihr den Schlaf geteilt hatte. Ich weiß nicht, wann man das Foto von Teresa aufgenommen hat, sicher hat es niemand je genau gewusst: Es ist sehr klein, es befindet sich in einem hölzernen Rahmen, auf einem Regal, und seitdem sie gestorben ist, wird ihr niemand mehr als einen gelegentlichen Blick zugeworfen haben, so wie man Vasen oder Ziergegenstände und sogar Gemälde in den Wohnungen
Weitere Kostenlose Bücher