Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
die ich habe, nichts verschwenden. Aus diesem Grund tue ich die ganze Nacht lang kein Auge zu. Ich habe Angst, sie könnte dann verschwinden.
Darum bin ich auch noch wach, als sich die Tür zum Gästezimmer knarrend öffnet. Ich springe sofort auf und hänge mich an die Felswand, wo ich auf Seite 43 sein muss, wenn das Buch aufgeschlagen daliegt. Aber das Gesicht, das auf mich herunterblickt, kenne ich. »Pssst«, sagt Edgar und nimmt vorsichtig das Märchenbuch aus Delilahs geöffneter Hand.
Ich gerate in Panik. Und wenn er nun gekommen ist, um die Geschichte zu zerstören? Wie er selbst zugegeben hat, mochte er sie nie. Wenn er nun eifersüchtig ist und Delilah für sich haben will? Oder wenn er schlafwandelt und mich aus Versehen in den Müll wirft?
Stattdessen jedoch trägt mich Edgar in sein Zimmer und schließt die Tür. Er setzt sich aufs Bett und zieht die Knie so an den Körper, dass er das Buch an seine Oberschenkel lehnen und ich ihn sehen kann, wenn er mit mir spricht. »Ich weiß, warum es nicht geklappt hat«, sagt er. »Man kann keine Figur aus einer Geschichte herausholen. Jedes Mal, wenn das Buch wieder aufgeschlagen wird, ist die Figur wieder da, wo sie angefangen hat. Was du brauchst – was die Geschichte braucht –, ist keine Flucht, sondern eine überraschende Wendung am Schluss.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll, wenn ich dann immer noch hier feststecke …«
»Aber wenn du nun gar nicht du wärst?«, sagt Edgar. »Wenn du den anderen etwas vorgemacht hättest? Wenn am Ende alle herausfänden, dass du die ganze Zeit über bloß ein Schwindler warst?«
»Kein Prinz?«, frage ich.
»Nicht einmal Oliver«, sagt er. »Nur einer, der ihm, na ja, auffällig ähnlich sieht.«
Kurz verschlägt es mir die Sprache. »Das würdest du tun? Für uns?«
»Nein, aber ich würde es für mich tun«, sagt Edgar. »Du weißt ja gar nicht, wie ähnlich wir uns im Grunde sind. Jeder von uns ist in einer Welt gefangen, in die er nicht richtig hineinpasst. Wir haben beide unsere Väter verloren. Wir wären beide lieber jemand anderer. Ich würde auf der Stelle mit dir tauschen.«
Doch wenn ich inzwischen etwas gelernt habe, dann, dass es nicht so einfach ist, von den Menschen, die man liebt, Abschied zu nehmen. Als Rapscullio Delilah in dieses Buch gezeichnet hat, wollte sie auch unbedingt nach Hause zu ihrer Mutter. Ich selbst habe ja keine, aber wenn ich eine hätte, könnte ich mir nicht vorstellen, sie für immer zu verlassen. »Und deine Mutter?«, frage ich ihn.
»Sie hat alle da drin erschaffen. Sie wäre ständig bei mir. Außerdem hat sie sich immer einen Sohn wie dich gewünscht. Und im Übrigen, wenn ich dich da drin hören kann, dann wirst du mich bestimmt auch hören können. Sollte ich rauswollen, werde ich einen Weg finden, es dich wissen zu lassen.« Er zuckt mit den Schultern. »Was haben wir schon zu verlieren, Oliver? Zur Abwechslung bekommst du mal das richtige Mädchen und zur Abwechslung werde ich mal ein Held sein.«
Er nimmt einen Stapel Papier in die Hand, der mir bisher nicht aufgefallen war. Erst jetzt sehe ich seine roten Augen und merke, wie müde Edgar offenbar ist. Was er auch getan haben mag, er ist die ganze Nacht wach gewesen. »Ich bin kein großer Schriftsteller«, sagt er. »Aber dies ist eine Geschichte, mit der ich leben könnte.«
Ich wünschte, ich könnte ihm die Hand schütteln. Ich wünschte, ich könnte mich richtig bei ihm bedanken. Vielleicht funktioniert es ja nicht, aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Ich hebe den Blick und nicke Edgar zu. »Na schön«, sage ich. »Lass hören.«
D elilah
Als ich aufwache, weiß ich überhaupt nicht, wo ich bin.
Die Bettwäsche ist nicht die gleiche wie zu Hause; die Wände des Zimmers sind in einer anderen Farbe gestrichen. Ich höre nicht meine Mutter falsch singen, während sie unten in der Küche Speck brät.
Dann ist plötzlich alles wieder da.
Ich bin von zu Hause weggelaufen.
Habe Hausarrest bis an mein Lebensende.
Jessamyn Jacobs.
Edgar.
Die umgeschriebene Geschichte.
Dass wir gescheitert sind, ist ein Schlag in die Magengrube. Vom heutigen Tag habe ich nichts zu erwarten, außer, mir auf der langen, traurigen Heimfahrt von meiner Mutter vier Stunden lang Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht anzuhören; und die Erkenntnis, dass ich endlich jemanden gefunden habe, der versteht, wie ich bin, und mich dafür gernhat – nur um am Ende feststellen zu
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