Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
gehört .
Sie holt tief Luft. »Schön, Delilah, jetzt reiß dich aber zusammen. Vielleicht hast du ja Fieber. Mit ein paar Paracetamol geht das gleich vorbei …« Sie will das Buch zuklappen, und ich schreie mit all meiner Kraft.
»Nein! Tu’s nicht!«
»Du verstehst das nicht«, sagt sie. Ihre Wangen sind gerötet, ihr Blick ist wild. »Figuren aus Büchern sind nicht real.« Sie schlägt sich an die Stirn. »Warum erkläre ich das jetzt auch noch laut?«
»Weil ich sehr wohl real bin«, flehe ich. »Genauso real wie du.« Ich fixiere sie mit dem Blick. »Und du bist die einzige Leserin, die das je bemerkt hat.«
Daraufhin öffnet Delilah leicht die Lippen. Ich merke, wie ich in Gedanken bei diesen Lippen bin, die weich und süß und unendlich viel küssenswerter scheinen als die von Seraphima. Sie lehnt sich zurück, sodass ich statt einer Großaufnahme ihres Gesichts nun ihr dunkles Haar, ihre rosafarbene Bluse, ihre Angst sehen kann.
»Bitte«, sage ich leise. »Gib mir doch eine Chance.«
Ich merke, dass sie unschlüssig ist, ob sie das Buch einfach zuschlagen oder doch zuhören soll. Also springe ich vom Klippenrand hinunter.
»Wie hast du das gemacht?«, keucht sie atemlos. »Wo sind deine Batterien?«
»Batterien? Was ist das denn?«, sage ich und rapple mich mühsam auf.
»Du hast dich bewegt«, sagt sie anklagend und zeigt mit dem Finger auf mich.
»Du auch«, erwidere ich. Ich beschließe, einen kleinen Test zu machen, und renne an den Seitenrand, um dort einen Salto zu schlagen. »Hast du das gesehen?«
»Ja, aber …«
»Und wie findest du das hier?« Ich halte mich an den Klippen fest und klettere wie ein Affe daran empor. Oben angekommen, mache ich einen Riesensatz und schlinge meine Arme um die Schleife eines g . Dann schaukle ich daran hin und her.
»Jetzt gibst du aber an«, sagt Delilah.
Ich lache. »Tu mir einen Gefallen«, bitte ich. »Drehst du das Buch mal seitwärts?«
Sie tut es und ich lasse los, sodass ich leichtfüßig auf der langen Kante der Seite lande, und rutsche daran entlang bis zur Illustration am unteren Ende.
»Nicht zu fassen«, flüstert Delilah und stellt das Buch wieder gerade hin. »Wie bewegst du dich?«
»Genauso wie du, schätze ich.«
Zögernd hält sie ihre Hand vor dem Buch in die Höhe. »Wie viele Finger?«
»Drei.«
»Du kannst mich also auch sehen?«
»Ich konnte dich immer sehen«, sage ich. »Ziemlich hübscher Anblick.«
Ich beobachte, wie sie rot anläuft.
»Ich habe schon Hunderte von Büchern gelesen. Wieso ist mir so was noch nie passiert?«, fragt sie.
»Ich bin wohl anders als die meisten Figuren«, sage ich langsam. »Alle anderen hier drin sind offenbar damit zufrieden, dass der Ablauf ihres Lebens schon vollkommen festgelegt ist, und tun einfach das, was von ihnen verlangt wird. Ich hab da nie richtig reingepasst. Immer habe ich mich gefragt, wie es denn wäre, jemand … anderes zu sein.«
Delilahs Augen werden kugelrund. »Das habe ich mich auch immer gefragt.«
Mit strahlender Miene lächle ich sie an. »Siehst du, wie viele Dinge wir schon gemeinsam haben.«
Sie zieht eine Grimasse. »Ja. Zum Beispiel spreche ich mit einem Buch, und du bist überzeugt, dass du lebendig bist. Wir sind also beide verrückt.«
»Oder einfach sehr weit entwickelt …«
»Vielleicht habe ich was Falsches gegessen«, mutmaßt Delilah, steht auf und tigert im Kreis herum. »Vielleicht war der Orangensaft vergoren oder ich habe versehentlich zu viele Vitamintabletten genommen und leide jetzt an Halluzinationen …«
»Nicht schon wieder«, seufze ich. »Haben wir nicht gerade festgestellt, dass ich kein Produkt deiner Fantasie bin?«
»Du kannst einfach nicht real sein«, flüstert Delilah.
»Und wieso bitte nicht? Glaubst du wirklich, dass eine Geschichte nur dadurch existiert, dass du sie liest?«
»Hm«, sagt Delilah. »Hm, ja.«
Ich stemme meine Hände in die Hüften.
»Wenn du abends schlafen gehst, hörst du dann auf zu existieren?«
»Natürlich nicht …«
»Und woher willst du wissen, dass du nicht auch Teil eines Buches bist? Dass nicht jetzt gerade irgendjemand deine Geschichte liest?«
Sie blickt mich an und kneift die Augen zusammen, während ihr langsam klar wird, was das bedeutet. »Aber du bist Teil eines Märchens.«
»Genau. Teil eines Märchens. Das bedeutet, dass ich mehr bin, als das Auge des Durchschnittslesers zu erfassen vermag. Hast du je darüber nachgedacht, dass vielleicht mehr hinter dem stecken
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