Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
ich neugierig. »Was ist nachsitzen?«
»Das ist … nicht wichtig«, sagt sie. »Hör mal, du darfst nicht einfach reden, wenn andere Leute dabei sind.«
»Glaub mir, die werden mich nicht hören. Keiner hört mich.«
»Tja, aber sie hören mich und normale Leute sprechen nicht laut mit Büchern.«
Ich grinse. »In diesem Fall bin ich froh, dass du nicht normal bist.«
»Du hast einfach keine Ahnung. Laut mit fiktiven Figuren zu sprechen ist nur die Spitze des Eisbergs.«
»Fiktiven Figuren?«
»Tja«, sagt sie. »Du magst ja real sein, aber du steckst trotzdem in einem Buch.«
»Genau darum brauche ich deine Hilfe.«
»Ich verstehe nicht …«
Sehr ruhig blicke ich in ihre honigbraunen Augen. »Ich will, dass du mich hier rausholst.«
D elilah
Also schön, das alles geschieht eigentlich gar nicht.
Meine Mutter hat recht. Ich brauche wirklich mehr Schlaf. Schlimm genug, dass ich mich mit einem Buch unterhalte. Darüber nachzudenken, wie ich eine Figur aus der Geschichte hole, geht eindeutig zu weit.
»Ich glaube nicht, dass das funktioniert«, sage ich. »Es ist ja nicht so, als würde man jemanden aus dem Gefängnis befreien …«
»Ich bin doch kein Verbrecher!«
»Nein, du bist eine zweidimensionale, wenige Zentimeter große Illustration«, stelle ich klar. »Wenn du da rauskämst, was würdest du dann tun? In einem Schuhkarton wohnen? Leben wie der flache Franz?«
»Wer ist der flache Franz?«
»Auch eine Figur aus einem Buch«, sage ich. Plötzlich fällt mir ein, wie uns der Lehrer in der zweiten Klasse aufgetragen hat, unsere ausgeschnittenen »Franz«-Figuren in den Osterferien überallhin mitzunehmen. Meine Mutter und ich haben in Boston Fotos mit ihm gemacht, wie wir sämige Muschelsuppe essen und den Robben im Aquarium zuwinken.
Also ist Oliver vielleicht gar nicht die erste fiktive Figur, die reiselustig ist.
»Du weißt doch gar nicht, ob ich dann so klein bleibe. Vielleicht hätte ich die richtige Größe, um in deine Welt zu passen, sofern ich es überhaupt dorthin schaffe.«
»Warum diskutieren wir eigentlich darüber?«, explodiere ich. »Man kann keine Figur aus einem Buch holen!«
»Woher willst du das wissen? Hast du es schon mal probiert?«
»Nein, aber Aschenputtel arbeitet auch nicht bei Starbucks, das gibt es einfach nicht.«
»Aschenputtel? Starbucks?«, fragt Oliver verständnislos.
»Genau. Du könntest in dieser Welt keine zehn Sekunden überleben«, erkläre ich ihm. »Es gibt hier draußen so viel, was du nicht kennst.«
»Ich kenne doch dich«, beharrt Oliver.
So, wie er mich ansieht, vergesse ich fast, dass all das nur in meiner Fantasie passiert.
»Du kennst mich kaum. Wir unterhalten uns jetzt vielleicht seit zwanzig Minuten.«
»Irrtum«, sagt Oliver. »Ich weiß, dass dein Zimmer rosa gestrichen ist. Und dass du dir auf die Unterlippe beißt, wenn Rapscullio und ich kämpfen. Und dass du es nie versäumst, deinem Goldfisch gute Nacht zu sagen. Und dass du morgens, wenn du dich anziehst, manchmal zu Musik tanzt, die aus diesem merkwürdigen kleinen Kasten kommt …«
»Du hast mich beobachtet, wenn ich mich morgens anziehe?«
Er grinst mich an. »Wenn du das Buch auch immer offen liegen lässt …«
»Wir wissen nicht einmal, ob das hier nicht eine einmalige Sache ist«, sage ich. »Vielleicht wärst du für immer verschwunden, wenn ich das Buch jetzt zuklappen würde.«
Oliver tritt einen Schritt nach vorn. »Probier’s aus.«
»Was?«
»Das Buch zuzuklappen.«
»Aber was ist, wenn …« Ich merke, dass ich nicht will, dass er verschwindet. Auch wenn ich nicht so recht glaube, dass er real ist; auch wenn ich nicht recht verstehe, warum ich ihn mit mir sprechen hören kann – irgendwie gefällt es mir. Es gefällt mir, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der zuhört, was er zu sagen hat. Es gibt mir das Gefühl, dass wir füreinander bestimmt sind. So wie es im Märchen geschieht, nicht aber in meinem langweiligen Alltagsleben. »Bist du sicher?«, flüstere ich.
Oliver nickt. Ich beginne das Buch zu schließen, doch dann höre ich ihn rufen und schlage es rasch wieder ganz auf. »Nur für den Fall«, sagt er und blickt mir dabei unverwandt in die Augen. »Nur für den Fall, dass es … nicht klappt. Ich möchte, dass du eins weißt, Delilah. Du bist jetzt schon das größte Abenteuer meines Lebens.«
Behutsam berühre ich den weißen Hintergrund neben Oliver.
Er streckt die Hand nach meiner aus und spreizt die Finger,
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