Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
drückt sie gegen die hauchdünne Barriere zwischen uns.
Ich spüre den Druck seiner Berührung, die Wärme seiner Haut.
Bevor ich noch den Mut verliere, schließe ich das Buch.
Ich hole tief Luft. Dann noch einmal. Ich buchstabiere das Wort M-I-S-S-I-S-S-I-P-P-I. Dann blättere ich das Buch durch, bis ich wieder auf Seite 43 angekommen bin.
Da ist die Klippe und in der Ferne das Meer. Da ist der steinige Strand, auf dem Oliver gestanden hat. Nur Oliver fehlt.
Es ist, als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube verpasst. Tränen schießen mir in die Augen und ich frage mich, wie mich der Verlust von etwas, das ich nie besessen habe, so sehr aus der Fassung bringen kann.
Und genau in diesem Moment streckt Oliver den Kopf hinter einem Felsen hervor. »War bloß ein Scherz«, sagt er lachend.
» Sehr witzig!« Schon will ich das Buch wieder zuschlagen.
»Warte! Warte! Es tut mir leid. Wirklich!«
Ich lasse die Seiten wieder aufklappen. »Du bist mir was schuldig«, murmle ich.
»Ich mache es wieder gut, versprochen«, gelobt Oliver. »Sobald ich aus diesem Buch heraus bin.«
»Aber ich muss jetzt wirklich los«, erkläre ich ihm. »Wenn ich nicht zu Mathe gehe, bekomme ich Ärger.«
Oliver nickt. »Na klar«, sagt er und zögert dann. »Ist Mathe weit weg?«
Ich unterdrücke ein Grinsen. »Lichtjahre entfernt«, sage ich. »Ich bin bald zurück.«
»Und dann hilfst du mir, hier rauszukommen?«
»Ich weiß nicht …«
»Versprochen?«, fragt Oliver.
Ich kann mich nicht erinnern, dass sich schon einmal jemand so auf meine Rückkehr gefreut hätte. Die meisten meiner Mitschüler sind froh, wenn ich verschwinde, und den anderen ist es vollkommen gleichgültig. Außer Jules natürlich, aber die braucht mich nicht. Jedenfalls nicht so wie Oliver.
»Ja«, sage ich. »Versprochen.«
Ich quäle mich durch die Mathe- und Englischstunde und erlebe in Sozialkunde einen peinlichen Moment, als mich Mr Uwenga aufruft und nach dem Namen des Außenministers fragt, worauf ich »Oliver« antworte. Endlich kommt die Freistunde. Jules und ich treffen uns immer am gleichen Tisch in der Cafeteria. An dem, wo die ganzen Streber sitzen. Jules könnte wahrscheinlich ohne weiteres verkünden, sie sei das Ergebnis einer Liebesaffäre zwischen Präsident Obama und einer Katze – nicht einmal dann würden sie von ihren Analysisbüchern hochblicken.
Sie lässt sich mit ihrem Essenstablett auf den Stuhl neben mir fallen und seufzt. »Noch vier Stunden, sechsunddreißig Minuten und zwölf Sekunden, bis wir aus diesem Fegefeuer ins Wochenende entlassen werden.«
»Später vielleicht«, sage ich, immer noch nicht ganz bei der Sache.
»Also, ich erklär dir jetzt mal, wie eine Unterhaltung funktioniert. Ich sage etwas, und dann antwortest du etwas, das sich tatsächlich darauf bezieht, worüber ich gerade gesprochen habe. So, als würde es dich wenigstens ein klein wenig interessieren.«
»Hä?« Ich drehe mich zu ihr und schüttle den Kopf. »Tut mir leid. Ich bin heute irgendwie nicht ganz da.«
»Was ist denn los?« Sie schiebt sich eine Traube in den Mund. »Hat Uwenga euch wieder mit einem unangekündigten Test überrumpelt? Und wenn, kannst du mir dann das Thema sagen, damit ich vorbereitet bin?«
Ich will Jules so gern alles erzählen. Ich will, dass sie es selbst sehen kann, denn wenn sie es ebenfalls glaubt, dann bin ich nicht verrückt. Jedenfalls ist meine beste Freundin der einzige Mensch, der mich ausreden lassen wird, ohne mich zu verurteilen oder mich als Irre zu bezeichnen. Also wage ich es. »Hast du dich je gefragt, was passiert, wenn du ein Buch zuschlägst?«
Jules hört auf zu kauen. »Hm. Es bleibt zu?«
»Nein, ich meine, was mit den Figuren im Buch passiert?«
Sie legt den Kopf schief. »Es sind bloß Worte.« Fragend sieht sie mich an. »Hat das irgendwas mit dem Englischunterricht zu tun?«
»Nein. Sie sind Worte, aber sie sind noch mehr als das. Sie werden in deinem Kopf lebendig, stimmt’s? Woher weißt du also, dass sie nicht weitermachen, wenn du aufhörst zu lesen?«
»So wie kleine Kinder glauben, wenn sie eingeschlafen sind, stehen ihre Stofftiere auf und machen Party?«
»Ja, genau.«
Jules lacht. »Einmal habe ich die Videokamera von meinem Vater die ganze Nacht laufen lassen, weil ich dachte, ich könnte meine Spielzeuge auf frischer Tat ertappen. Ich war überzeugt, mein Kitzel-mich-Elmo wäre ein heimlicher Axtmörder.« Sie zuckt mit den Schultern. »Wenn das der Fall
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