Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Eisfabrik; Boston; die Freiheitsstatue. Der einzige Haken an unserem Plan war nämlich, dass Delilah nicht bei der Entstehung des Gemäldes anwesend sein konnte – denn dazu musste das Buch geschlossen sein und ich mich allein mit Rapscullio in seinem Unterschlupf treffen.
Deshalb bestand Delilah darauf, dass ich mir jedes kleinste Detail in ihrem Zimmer einprägte, damit es auf der magischen Leinwand so genau wie möglich dargestellt werden konnte. Sie überlässt eben nichts dem Zufall, genauso wie ich.
»Wie viele Lampen gibt es hier drin?«, fragt sie mich ab.
»Drei. Eine auf dem Schreibtisch, eine am Bett festgeklemmt und eine auf der Kommode. Und neben der Lampe auf der Kommode steht die Spieluhr, die du von deiner Mutter zum fünften Geburtstag bekommen hast. Und am Kopfende deines Bettes klebt ein Aufkleber von Coco, dem neugierigen Affen, den du mit drei Jahren da hingeklebt und nie mehr richtig abgekriegt hast; und momentan liegen auf der Kommode neben deiner Haarbürste drei Paar Ohrringe, die du noch nicht in deine Schmuckschatulle zurückgeräumt hast.« Ich ziehe eine Grimasse. »Glaubst du mir nun , dass ich bereit bin?«
»Absolut«, sagt sie.
»Na gut, dann bin ich jetzt weg.«
»Warte!« Als ich mich zu ihr umdrehe, sieht sie mich an und beißt sich auf die Unterlippe. »Was ist, wenn es … nicht funktioniert?«
Ich strecke den Arm aus, als könnte ich sie berühren, aber natürlich geht das nicht. »Und was ist, wenn doch?«
Sie fährt mit dem Finger über den Rand der Seite, ganz dicht bei mir. Die Welt um mich herum beginnt leicht zu wogen. »Auf Wiedersehen«, sagt Delilah.
Rapscullios Höhle müsste mal gründlich geputzt werden. In der Ecke hängen Spinnweben, und ich bin ziemlich sicher, dass eine Ratte über meine Schuhe huscht, als ich eintrete. »Jemand zu Hause?«, frage ich munter.
»Hier drüben«, ruft Rapscullio. Als ich um eine Ecke biege, finde ich ihn damit beschäftigt, einen Schmetterling zu untersuchen, der in einem Marmeladenglas gefangen ist. In den Deckel sind Löcher gebohrt, aber das Insekt schlägt verzweifelt mit den Flügeln und versucht zu entkommen.
Ich weiß, wie das ist.
»Rapscullio«, sage ich. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Bin gerade ziemlich beschäftigt, Majestät …«
»Es ist ein Notfall.«
Er stellt das Marmeladenglas mit dem Schmetterling auf dem Tisch ab. »Schieß los«, sagt Rapscullio und verschränkt seine langen, dünnen Arme.
»Ich hatte gehofft, du könntest etwas für mich zeichnen. Ein Geschenk.«
»Ein Geschenk?«
»Ja – für eine Freundin. Eine ganz besondere Freundin.«
Rapscullios Miene hellt sich auf. »Da habe ich genau das Richtige – ich arbeite gerade an einer Nahstudie eines Hakenkäfers …«
»Ich hatte an etwas anderes gedacht«, unterbreche ich. »Es sollte ein bisschen romantischer sein.«
Er kratzt sich am Kinn. »Mal sehen …« Rapscullio zieht drei Leinwände mit Darstellungen von Seraphimas Gesicht aus den Stapeln an der Wand. »Du hast die Wahl.«
»Die Sache ist … es ist nicht für Seraphima.«
Langsam verziehen sich Rapscullios Lippen zu einem anzüglichen Lächeln. »Oho«, sagt er. »Unser kleiner Prinz lässt offenbar nichts anbrennen.«
»Ach, hör schon auf, Rapscullio. Du weißt doch, dass Seraphima und ich nie so richtig zusammengepasst haben.«
»Und wer ist die Glückliche?«, fragt er.
»Du kennst sie nicht.«
Er lacht. »Na, das ist angesichts dessen, wie überschaubar unsere Welt ist, höchst unwahrscheinlich.«
»Hör mal«, sage ich. »Tu mir einfach diesen einen Gefallen, dann mache ich alles für dich, was du willst.«
»Alles?« Er schielt mich aus dem Augenwinkel an.
Ich zögere. »Na klar.«
»Würdest du mir … mir was vorsingen?«
Ganz ehrlich gesagt kann ich Singen ungefähr genauso gut wie Zeichnen. Trotzdem nicke ich, und Rapscullio dreht sich um, räumt ein paar weitere Leinwände aus dem Weg und stimmt auf einem uralten Klavier eine Melodie an.
Ich lausche den ersten paar Noten. »Kennst du es?«, fragt er hoffnungsvoll.
»Äh, ja.« Ich räuspere mich und beginne zu singen:
» For he’s a jolly good fellow, for he’s a jolly good fellow, for he’s a jolly good fellow … that nobody can deny. «
Als ich verstumme und aufblicke, wischt sich Rapscullio eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das«, sagt er schniefend, »war wunderschön.«
»Ähm … danke.«
Er räuspert sich. »Es ist nicht immer leicht, der Bösewicht zu sein, weißt du.«
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